Urs Widmer – ein Erzähler voller Esprit
Heitere Bitterkeit und bittere Heiterkeit: Die Geschichten von Urs Widmer rühren zu Tränen und Lachen zugleich. Der Schweizer ist einer der renommiertesten Autoren der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Am 21. Mai wird er 70 jährig.
Mit zahlreichen Literaturpreisen ausgezeichnet steht Widmer in der Nachfolge von Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Immer wieder thematisiert er zeitgenössische Probleme und Fragen.
Mit seinem mehrfach prämierten Theaterstück «Top Dogs» um die jähen Abstürze entlassener Spitzenmanager gelang ihm 1997 ein grosser Kritiker- und Publikumserfolg. Die Jury der Zeitschrift «Theater heute» ernannte ihn für das moderne Königsdrama zum Dramatiker des Jahres.
«Es ist für eine Gesellschaft überlebenswichtig, dass ihr jemand ihre Geschichten erzählt», sagte Widmer einst. In seinen Erzählungen hebt Widmer die Grenze zwischen Realität und Fantasie auf. Er gilt als Meister des poetischen Formulierens.
Der Sprachzauberer entspinnt Gedankenwelten, die zum Nachdenken anregen. Sie handeln von luftigen Utopien, zerbrochenen Sehnsüchten und Normalität, durchsetzt von Ironie.
«Wenn Literatur nur den Ist-Zustand schildert, ist mir das zu wenig», sagte der Autor. Sie müsse auch utopische Qualitäten haben: «Man muss daran erinnern, dass die Welt einmal schön war.»
«Mein Gott war Diderot»
Aufgewachsenen mit einem dichtenden Vater und Gästen wie Heinrich Böll, begeisterte sich Widmer früh für Literatur. Die französische Literatur prägte ihn nach eigenen Angaben zuweilen jedoch mehr als die deutsche: «Mein Gott war Diderot. Und Camus und Sartre, weil die so toll aussahen im Café, mit ihrer Gauloises im Mund.»
Nach seinem Studium der Germanistik, Romanistik und Geschichte in Basel, Montpellier und Paris promovierte er über die deutsche Nachkriegs-Literatur. 1967 zog Widmer nach Frankfurt am Main, wo er Lektor im Suhrkamp-Verlag wurde.
«68 hat mich voll erwischt», sagte Widmer. «Das war kein Wunder, schliesslich wurden unter unserer Regie die Gebrauchsanweisungen für die ’68er-Revolte› herausgegeben.»
Keine Zeile von ihm sei unpolitisch: «Es gibt keine Kunst ohne eine Moral. Ich will an dieser Welt teilnehmen, und ich nehme, wie die Dinge so liegen, leidend an ihr teil.»
Von Frankfurt nach Zürich
Die grosse literarische Bühne betrat er 1968 als 30-Jähriger. Über seinen Debütroman «Alois» sagte Widmer: «Man kann sagen, dass ich damit die geheimen Hoffnungen meines Vaters zu erfüllen versuchte. Der wollte wohl den grossen Roman schreiben, hat es aber nie getan.»
Frankfurt gefiel Widmer. Er blieb dort 17 Jahre lang als freier Schriftsteller, Literaturkritiker und Dozent für Neuere deutsche Literatur an der Universität, bevor er 1984 wieder in die Schweiz zurückkehrte. Heute lebt der Vater einer Tochter mit seiner Frau in Zürich.
Doch bleibt er Frankfurt weiterhin treu: Im vergangenen Jahr hielt er in einem stets überfüllten Hörsaal die Frankfurter Poetikvorlesungen und faszinierte sein Publikum mit Einfällen voller Esprit: «Frankfurt liegt am Mainstream.»
Grosser Erfolg mit «Der Geliebte der Mutter»
Widmer ist ein ungemein produktiver Autor: Zahllose Bücher, Hörspiele und Theaterstücke entstammen seiner Feder. Für seine Werke erhielt er unter anderem den Bertolt-Brecht-Preis 2001. Erst im vergangenen Jahr wurde er mit dem mit 12’500 Euro dotierten Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg ausgezeichnet.
In den vergangenen Jahren war er besonders mit autobiografisch angelehnten Romanen erfolgreich. Seine Trilogie «Der Geliebte der Mutter», «Das Buch des Vaters» und «Ein Leben als Zwerg» spiegelt die Zwischenkriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts in einer Familiengeschichte wider.
Sein neuestes Werk «Valentin Lustigs Pilgerreise» erschien im April dieses Jahres. In Geschichten und Briefen steht der Autor mit dem Maler Lustig über dessen Bilder im Dialog.
swissinfo und Beatrice Mirbach (ap)
Schweizer Geschichten. 1975
Die gelben Männer. 1976
Der blaue Siphon. 1992
Liebesbrief für Mary. 1993
Im Kongo. 1996
Vor uns die Sintflut. 1998
Der Geliebte der Mutter. 2000
Urs Widmer ist nicht nur ein brillanter Erzähler, sondern hat schon früh mit Theaterstücken für Furore gesorgt:
Jeanmaire. Ein Stück Schweiz. 1992
Top Dogs. 1997
Bankgeheimnisse. 2001
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch