Alarmsystem bei Entführungen erhält Auftrieb
Unter dem Eindruck des Tötungsdelikts Lucie hat der Ständerat am Donnerstag ein höheres Tempo bei der Einführung eines Alarmsystems bei Kindsentführungen gefordert. Seit der Ermordung der 4-jährigen Ylenia 2007 ist das Thema ein emotionaler Dauerbrenner.
Mit 38 zu einer Stimme verabschiedete die kleine Kammer eine entsprechende Motion. Dem freisinnig-liberalen Motionär Didier Burkhalter schwebt ein System vor, wie es die USA oder Frankreich kennen. Im Falle einer Kindsentführung wird dort Alarm ausgelöst und im Fernsehen und Radio, über Lautsprecherdurchsagen an Bahnhöfen und mit Plakaten auf den Fall aufmerksam gemacht. Schnelles Handeln sei wichtig, weil das Opfer in den meisten Entführungsfällen, die tödlich endeten, innerhalb der ersten 24 Stunden umgebracht werde.
Burkhalter wies die Argumente des Bundesrates, die Umsetzung sei komplex und liege in der Kompetenz der Kantone, zurück. Wenn viel grössere Länder ein Alarmsystem realisieren könnten, müsse dies in der Schweiz auch funktionieren. Ausserdem gehe es nicht darum, die Kantone zu übergehen, sondern für eine schnelle Umsetzung zu sorgen.
Politischer Wille massgebend
«Heute kann die Polizei eine Radiosendung unterbrechen und bekannt geben, dass ein Holzbrett auf die Strasse gefallen ist. Aber sie kann nichts machen bei einer Kindsentführung», sagte Jean-Marie Bornet, Sprecher der Kantonspolizei Wallis, gegenüber der Westschweizer Zeitung Le Matin.
«Wir haben bereits ein System, das die verschiedenen Polizeien mit den öffentlich-rechtlichen Radio- und Fernsehsendern verbindet. Dies zur Alarmierung der Bevölkerung bei Katastrophenfällen», so Bornet. Nichts verhindere eine Ausweitung des Systems auf Entführungen – «nichts, ausser der politische Wille dafür ist nicht vorhanden».
Ein Drama mehr
Am 4. März verlässt das 16-jährige Freiburger Au-Pair-Mädchen Lucie das Haus der Familie, bei der es in Pfäffikon am Zürichsee wohnt, für eine Shopping-Tour in Zürich. Nachts um 22 Uhr wird Lucie zum letzten Mal gesehen, in Baden, Kanton Aargau, 20 Kilometer von Zürich entfernt, in Begleitung eines 25-jährigen Mannes.
Am Sonntagabend wird das Mädchen in der Wohnung des jungen Mannes tot aufgefunden. Dieser stellt sich am nächsten Tag der Polizei und gesteht den Mord an Lucie.
2004 war der Mann bereits verurteilt worden wegen Gewalt und versuchter vorsätzlicher Tötung einer Arbeitskollegin. Er wurde in eine geschlossene Arbeitserziehungsanstalt für jugendliche Straftäter eingeliefert. Vor kurzem kam er auf Bewährung frei, mit der Auflage, sich einer Therapie gegen seine Drogen- und Alkohol-Abhängigkeit zu unterziehen.
Wieso hat der junge Mann Lucie brutal ermordet? Die Untersuchung wird es aufzeigen. Bis es so weit ist, halten in der Bevölkerung die Emotionen an.
Konkreter Vorschlag
Hätte ein Entführungs-Alarmsystem das Leben von Lucie retten können? Natürlich kann das niemand genau sagen. Aber für Ständerat Didier Burkhalter wäre es eine zusätzliche Chance gewesen.
Seine Motion – es ist die dritte zu dem Thema in 18 Monaten – sieht der Neuenburger als «konkreten Vorschlag». Wenn das Parlament das Begehren gutheisse, müsse die Landesregierung ein Gesetz erlassen, das ein Alarmsystem wie jenes in Frankreich ermögliche. «Und dieses hat sich bewährt», sagt Burkhalter gegenüber swissinfo.
Ein System, das in der Deutschschweiz teilweise auf Vorbehalte stösst. Eine Frage der kulturellen Sensibilität? Auf europäischer Ebene ist Deutschland zum Beispiel gegen ein solches Alarmsystem. Die deutschen Behörden sagen, dass die meisten als vermisst gemeldeten Kinder nach zwei Tagen wieder auftauchten. Sie befürchten zudem einen massiven Anstieg an Fehlalarmen.
Burkhalter sieht eher ein Informationsproblem. «Die Romands schauen vor allem französisches Fernsehen, sie sind in dieser Frage also sensibilisierter. Aber wenn man das System einmal begriffen hat, seinen Nutzen sieht, dann wird man es auch in der Deutschschweiz begrüssen.»
Die Argumente des Bundesrates
Nach der Ermordung des 4-jährigen Mädchens Ylenia 2007 hatte der Nationalrat, die grosse Kammer, bereits zwei Motionen für ein Alarmsystem bei Kindsentführungen gutgeheissen. Für den Bundesrat ist die Umsetzung des Begehrens «komplex», insbesondere weil diese in der Kompetenz der Kantone liege.
Im Zusammenhang mit der am Donnerstag vom Ständerat gutgeheissenen Motion äusserte Bundesrätin Eveline Widmer-Schlumpf ihr Bedauern über das grauenhafte Geschehen im Fall Lucie. Das schreckliche Ereignis erschüttere alle und werfe viele Fragen auf.
Sie fügte an, die Kantone befassten sich seit längerem mit der Einführung eines Alarmsystems. Die Justizministerin sicherte zu, an der nächsten Sitzung mit den kantonalen Justiz- und Polizeidirektoren vom kommenden 2. April noch einmal zu insistieren, dass vorwärts gemacht werde. Zudem sei ein internationales Alarmsystem eines der prioritären Geschäfte der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft.
Spontane Mobilisierung
Während die Politiker diskutieren, handeln die Leute. Schon kurz nach Lucies Verschwinden verteilen die Familie des Freiburger Mädchens und ihre Angehörigen in der Region Zürich-Baden Flugblätter und Plakate mit dem Portrait der 16-jährigen Vermissten.
Auch die Au-Pair-Familie und ihre Angehörigen werden aktiv: Sie lancieren im Internet-Sozialnetzwerk «Facebook» Aufrufe, um allfällige Informationen oder Hinweise im Zusammenhang mit der verschwundenen Lucie zu erhalten. Der Initiant dieser Gruppe erklärt, man habe dies «aus Ermangelung eines Entführungs-Alarmsystems» getan.
Innerhalb von 24 Stunden schliessen sich 10’000 Menschen dieser «Facebook»-Gruppe an. Am Montagmorgen sind es bereits 30’000 Personen, am Abend gleichentags, nach der Bekanntgabe des Todes von Lucie, rund 45’000 und am Mittwoch 60’000, die ihrer Trauer über Lucies Schicksal Ausdruck geben.
Dies beweist – wenn überhaupt nötig – , dass eine rasche und massive Mobilisierung in einem solchen Fall mit den heute zur Verfügung stehenden Medien möglich ist. Für Lucie war es leider zu spät. Aber für die anderen…
swissinfo, Marc-André Miserez
(Übertragung aus dem Französischen und Adaptation: Jean-Michel Berthoud)
Das Bild des Sadisten, der sein Opfer während Tagen quält, hat wenig mit der Realität zu tun. Die Praxis zeigt, dass schnelles Eingreifen der entscheidende Faktor ist.
Eine amerikanische Studie aus dem Jahr 1993 hatte 621 Kindsentführungen untersucht, die alle mit der Ermordung endeten. Resultat: 44% der Opfer wurden innerhalb der ersten Stunde, 74% in den ersten drei und 91% in den ersten 24 Stunden nach der Entführung umgebracht.
Der «Amber Alert» ist eine freiwillige Zusammenarbeit zwischen Justizbehörden und den Massenmedien. Dabei wird die Öffentlichkeit bei Kindsentführungen via Rundmeldungen auf den Fall aufmerksam gemacht.
Amber ist der Vorname eines 1996 in den USA entführten und ermordeten Mädchens. Er steht aber auch für «America’s Missing: Broadcasting Emergency Response».
England, Wales und Kanada kennen ähnliche Alarmsysteme.
In Frankreich wird innert 30 Minuten nach der Bestätigung einer Entführung mit Plakaten auf Autobahnen sowie Lautsprecher-Durchsagen an Bahnhöfen und Flughäfen auf das vermisste Kind aufmerksam gemacht. Aufrufe erfolgen zudem über Radio und Fernsehen.
Seit der Einführung dieses Alarmsystems wurden in Frankreich sieben Entführungsopfer gerettet.
Frankreich möchte das Alarmsystem europaweit einführen. Die Debatte innerhalb der EU ist im Gang. Grenzüberschreitende Zusammenarbeit unterhält Frankreich bereits mit Belgien, Luxemburg, den Niederlanden und Grossbritannien.
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