Antipasti-Teller statt Café complet
Als Arbeiterinnen und Arbeiter waren sie in den 40er- und 50er-Jahren in die Schweiz gekommen. Nun sind sie alt geworden und zum Teil hier geblieben.
Im Zürcher Krankenheim Erlenhof gibt es eine spezielle Abteilung für betagte Migrantinnen und Migranten aus Südeuropa.
Fenchel statt Sauerkraut, «la Piazza» für den Aufenthaltsraum, Espresso statt Milchkaffee oder «insieme» statt alleine, heisst es nun für diese Menschen in der Abteilung H im Krankenheim Erlenhof in Zürich.
Auf der «Piazza» sitzt eine Gruppe älterer Männer und Frauen und diskutiert angeregt. Aus dem Lautsprecher eines Radios hallt die Stimme eines italienischen Cantautore. Im Zimmer nebenan trinken elegante Damen Espresso und unterhalten sich über Frisuren.
Die Abteilung H wurde speziell für Menschen aus dem mediterranen Raum geschaffen; für Leute, die den grössten Teil ihres Lebens in Zürich verbracht haben, sich jedoch wenig integrierten, weil dies in den 40er- und 50er-Jahren kein Thema war. Sie wurden als Arbeiter gerufen, und man erwartete von ihnen die Rückkehr in ihre Heimat.
Zwischen Langstrasse und Bahngeleisen
«Diese Menschen mussten nicht Deutsch lernen. Sie waren vielfach in Arbeitsverhältnissen tätig, wo dies nicht nötig war oder lebten in ihren Familien und Gemeinschaften», sagt Heimleiterin und Geschäftsführerin Brigitte Büchel. Es sei vorgekommen, dass Leute verstummten, weil in den Altersheimen, in denen sie waren, keiner mit ihnen reden konnte.
Der Erlenhof ist eine private Institution und eines der ältesten Krankenheime in Zürich. Trägerschaft ist die Diakonie Nidelbad. Seit Mai 2003 widmet sich eine Abteilung des Heimes im Kreis 4, zwischen Langstrasse und Bahngeleisen, den betagten Migranten.
1906 hatten sich Brüder und Schwestern zum Schweizerischen Diakonieverein zusammengeschlossen. Sie waren in Spitälern, Privat-, Armen-und Gemeindepflege und in der Kinder- und Jugendarbeit tätig. Im Langstrassenquartier setzten sie sich damals im Gebäude des heutigen Erlenhofs für Randständige ein.
Ein Schweizer in den Ferien
19 Menschen leben zurzeit auf der Abteilung, zehn aus Italien, zwei aus Spanien, einer aus Somalia und fünf aus dem Tessin. Als einziger Deutschschweizer lebt auch Herr W. bei den Südländern. Er redet mit seinen Mitbewohnern über alles, er auf Deutsch, sie auf Italienisch, keiner versteht den andern.
«Er glaubt, er sei hier in den Ferien», sagt Stationsleiterin Caterina Scuderi, Tochter italienischer Einwanderer. Es gehört zum Konzept, dass das Pflegepersonal italienischer oder spanischer Muttersprache ist.
«Es arbeiten hier Leute, die den Migrationsbruch miterlebt haben und die Bräuche dieser Menschen kennen», sagt die Heimleiterin.
Eine «richtige» Espresso-Maschine
So wird denn auch auf die kulturellen Bedürfnisse speziell Rücksicht genommen. Vor allem beim Essen und in der Gemeinschaft sei dies wichtig, sagt Scuderi. «Essen ist ein sozialer Moment.» So darf einem Italiener beispielsweise kein Café complet zum Znacht aufgetischt werden. Das sei doch kein Essen, hiesse es dann.
Auf der Abteilung wird deshalb abends immer warm gegessen – wie es sich Südländer eben gewohnt sind. Die Bewohner forderten für den «Caffè» nach dem Mittagessen zudem eine richtige Espresso-Maschine. Ein paar wenige Mitbewohner speisen mittags nicht auf der Station, sondern in der Cafeteria, und sagen: «Andiamo al Ristorante».
Am meisten unterscheide sich die Abteilung von den anderen durch das grosse Gemeinschaftsgefühl, sagt Scuderi. Die Anteilnahme und das Miteinander seien riesig. «La nonnina», das Grossmütterchen, wird die rund 90-jährige, verwirrte Frau im Rollstuhl genannt. Beim Mittagessen wird sie von den anderen in Gespräche einbezogen.
Weniger Medikamente
Immer wieder beobachtet Heimleiterin Büchel, dass es Leuten nach kurzer Zeit auf dieser Abteilung besser geht. «Der Verbrauch von Psychopharmaka ist gering, und der Schlafmittelkonsum ging stark zurück», sagt sie.
Die Menschen seien wacher, und die Demenz werde manchmal gestoppt. «Die Pflege allein kann dies nicht erreichen.»
Aussehen und Kleidung haben bei diesen Menschen gemäss Scuderi einen grösseren Stellenwert als bei Bewohnern aus der Schweiz. «Auch Sexualität und Erotik sind häufige Themen, über die geredet wird.»
Kürzlich kaufte ein Bewohner einer Bewohnerin in einer Boutique an der Langstrasse einen Büstenhalter, weil sie gesagt hatte, dass sie seit 20 Jahren keinen mehr trage. Vorher immer ohne, schlief die Frau fortan sogar im neuen, roten Spitzen-BH.
An Grenzen stösst das Heim manchmal, wenn jemand Geburtstag hat oder stirbt: «In Italien kommen bei solchen Ereignissen nicht fünf sondern zwanzig Angehörige», so Scuderi. Und wenn Bewohner Besuch erhalten, versammelt sich oft die ganze Abteilung. «Bei uns ist immer Action», sagt die Stationsleiterin.
swissinfo und Luzia Schmid, sda
In Zürich leben etwa 3600 Menschen in Alters- oder Pflegeheimen, darunter rund 100 Italiener oder Spanier.
Insgesamt leben 2921 über 70-jährige Ausländer in Zürich: 1007 Italiener, 102 Spanier, 9 Portugiesen.
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