Chinas Bürgerstreit am Salzregal
Die schlechten Nachrichten aus Fukushima gingen auch an China nicht spurlos vorbei, denn Japan liegt nur 2000 km entfernt. Die Atomkatastrophe im Land der aufgehenden Sonne hat im Reich der Mitte einen Streit ums Salz ausgelöst.
Die Nachricht vom japanischen Jahrhundert-Erdbeben und dem anschliessenden Tsunami wurde in China relativ gelassen aufgenommen. Nicht dass man den Japanern ihr Schicksal gönnen würde, aber die Sympathie zwischen den Ländern hält sich – diplomatisch ausgedrückt – in Grenzen. China traut seinem mächtigen Nachbarn seit dem 2. Weltkrieg nicht über den Weg.
Als aber klar wurde, dass wenig östlich von Peking eine Nuklearkatastrophe droht, wurde es den Leuten dann doch mulmig zumute.
Auch ich machte mich auf den Weg in die nächste Apotheke gleich um die Ecke, um vorsorglich Jodtabletten zu kaufen. Die zwei vollleibigen Damen an der Theke schauten mich zuerst verdutzt an und lachten mich dann unverblümt aus. Wozu ich um Himmelswillen Jodtabletten brauche, das habe in ihrem ganzen Leben noch nie jemand verlangt.
Meine Erklärungsversuche scheiterten an meinem begrenzten Wortschatz für chinesische Fachbegriffe aus der Nuklearphysik. Ich ging also ohne Tabletten zurück in mein Büro, wo mich einer meiner Mitstudenten sichtlich besorgt fragte, ob ich schon Salz gekauft hätte.
Ein Gerücht verbreitet sich
Kurz nach der Katastrophe verbreitet sich im Internet das Gerücht, dass in China wegen Fukushima schon bald nur noch radioaktiv verseuchtes Speisesalz erhältlich sein werde. Das Meer vor Japan werde radioaktiv verseucht, und Speisesalz, das aus Meerwasser gewonnen werde, sei folglich schon bald lebensgefährlich. Daher sei es sehr ratsam, jodhaltiges Speisesalz zu kaufen, nicht zuletzt könne das Jod auch vor Verstrahlung der Schilddrüse schützen.
Kurz danach bilden sich vor den Salzregalen in den Supermärkten quer durchs Land lange Warteschlangen. Auch in den Städten im Landesinneren ist der Ansturm riesig, und schon bald ist Salz weitgehend ausverkauft.
Bürgerstreit im Supermarkt
Die Kämpfe um das Salz werden zunehmend erbittert, die Nachrichten sind voll von Geschichten über wüste Prügeleien um die letzten Körnchen Salz. Schnell sind auch die Vorräte für nicht jodhaltiges Speisesalz leer gekauft, und Panik verbreitet sich bis zu den entlegensten Salzhändlern des Landes.
Da sich nun eine allgemeine Salzknappheit abzeichnet, wird der Kampf noch intensiver. Die Leute, die noch kein Salz abgekriegt haben, befürchten, sie würden schon bald nur noch ungesalzene Speisen aufgetischt bekommen.
Gleichzeitig beginnen auch Hamsterkäufe. Im Supermarkt meines Quartiers konnte ich einen alten Mann beobachten, der zwei Pakete à je 20 kg Speisesalz nach Hause schleppte. Noch ernster nahm ein Mann in Wuhan die Situation: Laut einem Blogeintrag soll der besorgte Chinese vorsorglich 6,5 Tonnen Salz in seiner Wohnung gebunkert haben.
Die Regierung greift ein
Knapp eine Woche nach dem Erdbeben erreicht die allgemeine Salzpanik im Land einen so besorgniserregenden Stand, dass sich die Regierung zur Intervention gezwungen sieht. Sie lässt ihre Bürger durch Zeitungen und Fernsehen wissen, dass übermässiger Salzkonsum ungleich schädlicher sei als die (zu diesem Zeitpunkt noch inexistente) Strahlung aus Fukushima.
Zudem reiche die Menge Jod im Speisesalz nicht aus, um wirksam vor Strahlen zu schützen. Und abgesehen davon komme der Grossteil des chinesischen Speisesalzes sowieso aus Salzminen tief im Landesinneren und nicht aus dem Meer. Parallel dazu wird ein Mann verhaftet, der angeblich das Salzgerücht im Internet verbreitet hatte.
Salz bis ans Lebensende
Nach und nach kehrt wieder Ruhe und Ordnung ein in Chinas Salzabteilungen, doch die absurde Geschichte des erbitterten Kampfes um die letzten Reste Speisesalz gibt einen eindrücklichen Einblick in Chinas Gesellschaft.
Besonders die ältere Generation Chinas hat in den Wirren der hiesigen Geschichte nur sporadisch Ausbildung genossen. Verständlicherweise sind diese Leute empfänglich für Gerüchte aller Art.
Marodierende Rentnergruppen hatten sich also schnell vor den Salzregalen versammelt und gleichzeitig ihre Söhne, Töchter und Enkelkinder in die nächsten Supermärkte abkommandiert. Sogar einige meiner durchaus intelligenten Mitstudenten folgten den familiären Befehlen und prügelten sich durch den Salzmarkt.
Wegen Fukushima werden nun also viele chinesische Familien bis an ihr Lebensende versalzene Speisen zu sich nehmen müssen, während einige geschickte Spekulanten gesalzene Gewinne eingefahren haben.
Ich meinerseits habe für den Fall der Fälle auch vorgesorgt und mir einige Flaschen salzige Sojasauce gekauft.
Immer häufiger reisen auch junge Leute für längere Zeit ins Ausland, sei das zum Studieren, Forschen, für ein Stage oder zum Arbeiten.
Zu ihnen gehört auch Christian Binz, der gegenwärtig in Beijing forscht.
Bis im Sommer 2011 berichtet er für swissinfo.ch über seine Erfahrungen und Beobachtungen in Beijing.
Christian Binz ist 27 Jahre alt. Er hat an der Universität Bern Geographie mit den Nebenfächern Volkswirtschaft, Philosophie und Chinesisch studiert.
Für seine Masterarbeit untersuchte er das chinesische Innovationssystem für dezentrale Wasserrecycling-Technologie.
Aus dieser Arbeit entwickelte sich seine Doktorarbeit, ein Kooperationsprojekt zwischen der Eawag (Wasserforschungsinstitut an der ETH) und der Chinesischen Akademie der Wissenschaften.
Seit September 2010 lebt er in Peking und arbeitet für sein Projekt, das untersucht, ob China in seinem urbanen Wassermanagement zu nachhaltigeren Lösungen finden könnte.
Christian Binz war insgesamt schon fünfmal in China und hat weite Teile des Landes bereist.
Nebst Reisen ist sein grösstes Hobby die Musik, insbesondere seine Band Karsumpu, wo er Mundharmonika, Piano und diverse «Binztrumente» spielt (www.karsumpu.ch).
Nebenbei ist er begeisterter Filmer, Sportler und Hochseesegler.
Nebst seiner Muttersprache Deutsch spricht er Englisch, Italienisch, Französisch und Chinesisch.
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