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Das Grauen des Gulag

Rutgers war eine stramme Kommunistin, als sie 1932 nach Moskau auswanderte. SRF

Zwei Ausstellungen in Genf zu den sowjetischen Arbeitslagern haben die grauenhaften Zustände, den Alltag, in den stalinistischen Gulags zum Thema.

Für die heute 92-jährige Schweizerin Else Rutgers sind die Erinnerung an den Gulag noch allgegenwärtig. Sie war fünf Jahre im sowjetischen Kasachstan gefangen.

Eine Ausstellung im Internationalen Rot-Kreuz-Museum in Genf befasst sich mit den Häftlingen in den sowjetischen Gulags in Sibirien. Der Besucher findet dort Fotos des Belgiers Carl de Keyzer, welche distanzierte Alltagsszenen zeigen, die häufig von der Gefängnisleitung gestellt wurden.

Eine zweite Ausstellung «Goulag, le peuple des zeks» zum selben Thema im ethnografischen Museum in Genf, gibt ebenfalls Einblicke in das Alltagsleben innerhalb dieser von der Weltöffentlichkeit total abgeschirmten «Gulag-Gesellschaft».

Stalins Regime zu spät erkannt

Nicht in Sibirien, sondern im Süden der ehemaligen Sowjet-Union musste Else Rutgers ihre schlimmen Jahre im Gulag verbringen.

Die heute 92-Jährige war eine von rund 200 Schweizer Kommunistinnen und Kommunisten, welche nach der russischen Revolution von 1917 nach Moskau auswanderten – und eine der wenigen, die einen Gulag überlebt haben.

Rutgers war 19 Jahre alt, als sie Zürich verliess und mit ihrem Mann Wim, einem holländischen Kommunisten, nach Moskau emigrierte. Erst nach 25 Jahren sollte sie wieder heimkehren.

«Ich weiss nicht, wie ich mit allem fertig wurde, was mir passierte», sagte Rutgers gegenüber swissinfo. «Wir merkten natürlich zu spät, wie Stalins Regime wirklich war.»

Idealstaat

Rutgers Vater, Mitglied der Schweizerischen Kommunistischen Partei, erzog sie so, dass sie an diese Ideale glaubte.

«Jeden Sonntag gingen wir, zum grossen Kummer unserer Mutter, mit ihm an kommunistische Zusammenkünfte», erinnert sich Rutgers. «Mein Vater verlor wegen seiner Parteimitgliedschaft sogar seine Arbeit.»

Laut Rutgers, die heute in einem Pflegeheim in Zürich lebt, war die Sowjetunion in den 20er-Jahren des letzten Jahrhunderts für ein Europa der Klassenhierarchien und des rechtsgerichteten Nationalismus ein Hoffnungsschimmer.

«Als ich Wim heiratete, ergriff ich natürlich die Chance, mit ihm zu gehen, um diesen sozialistischen Idealstaat aufbauen zu helfen.»

Säuberungen

Rutgers kamen 1932 in Moskau an. Obwohl beide Arbeit fanden – Wim als Ingenieur und Else als Lehrerin – war das Leben in der von Armut geprägten Hauptstadt hart.

«Bei so viel Armut war es schwierig, unseren Glauben an das System zu bewahren, aber wir dachten immer, das Regime sei schliesslich erst ein paar Jahre alt.»

1934, als Stalin in seiner umfassenden Säuberung der Kommunistischen Partei begann, alle mutmasslichen Verräter und Spione auszumerzen, wurde das Leben noch härter.

«Freunde verschwanden plötzlich, obwohl wir wussten, dass sie Kommunisten waren. Dass sich die Dinge in die falsche Richtung entwickelten, merkten wir viel früher als viele Russen, die einfach nicht sehen wollten, was vor sich ging.»

Spionin

Am 22. Juni 1941, als die deutschen Streitkräfte in die UdSSR einmarschierten, wurde Else von der Geheimpolizei verhaftet. Mit Hunderten weiterer Ausländer wurde sie in einem Zug von Moskau nach Saratow im Süden des Landes verfrachtet.

Nach einer albtraumhaften Reise in einem Viehwaggon kam sie im Gefangenenlager von Butyrka an.

«Es war kalt, es gab nicht viel zu essen und wir waren voller Ungeziefer,» erinnert sich Else. «Aber das schlimmste war, dass ich von meinem kleinen Sohn Petja getrennt war und nicht wusste, wo er war.»

Während ihrer Gefangenschaft verlor Else auch die Verbindung zu Wim, von dem sie zwar geschieden war, mit dem sie aber nach wie vor in engem Kontakt stand.

«Wim war ebenfalls denunziert worden und verlor seine Arbeit», erklärt Rutgers. «Nach 1942 verlor sich seine Spur. Wir wissen noch heute nicht, was mit ihm geschah.»

Gefährliches Element

Der schlimmste Schlag kam 1942. Else wurde ohne Gerichtsverhandlung als «gefährliches Element» zu fünf Jahren in einem Gulag in Kasachstan verurteilt.

Viele ihrer Mitgefangenen hatten weniger Glück. Sie mussten als «Konterrevolutionäre» gar zehn Jahre im schlimmsten Arbeitslager des Landes verbringen. Nur sehr wenige überlebten das.

Rutgers musste im Lager über ein Jahr Schwerarbeit verrichten, mit Eispickeln einen Kanal aus dem gefrorenen Boden Kasachstan ausheben.

Zu ihrer Überraschung und Erleichterung wurde sie dann als Forscherin ins Labor des Lagers versetzt: Funktionäre hatte in ihren Unterlagen entdeckt, dass Rutgers in Zürich als Laborassistentin gearbeitet hatte.

«Ich hatte Glück und musste nicht länger draussen arbeiten. Es war zwar immer noch zermürbend, es gab keine Fluchtmöglichkeit, aber wenigstens bekam ich genug zu essen.»

Entlassung

Als Rutgers 1947 aus dem Lager entlassen wurde, versuchte sie sofort, ihren Sohn zu finden. Sie fürchtete, ihn nie wieder zu sehen.

«Ich konnte es kaum glauben, als ich herausfand, dass Petjas Tante ihn in einem Waisenhaus gefunden und zu sich geholt hatte, bis ich aus dem Lager kam», erinnert sie sich. «Es war wie ein Märchen, ihn wieder zu finden.»

Rutgers durfte nicht nach Moskau zurückkehren. Als frühere Gulaginsassin durfte sie in keiner sowjetischen Grossstadt leben, da man fürchtete, sie könnte Unruhe stiften.

«Wir waren gebrandmarkt, als wir herauskamen. Niemand traute uns, und wir wurden vom KGB (der sowjetischen Geheimpolizei) überwacht.»

«Wenn wir am Leben bleiben wollten, mussten wir uns ruhig verhalten und durften nie etwas über Politik oder über unsere Vergangenheit sagen.»

Trennung

Mutter und Sohn liessen sich in der kleinen Stadt Aleksandrow, nördlich von Moskau nieder, wo Else sofort versuchte, ihre Heimkehr in die Schweiz auszuhandeln.

«Ich hatte schreckliches Heimweh. Alles, woran ich denken konnte, war die Schweiz.»

Es dauerte zehn Jahre, bis die Schweizer Behörden Rutgers Heimkehr erreichen konnten. Schliesslich kam sie Ende 1957 ohne ihren Sohn heim.

«Petja durfte nicht mit mir kommen. Erst zehn Jahre später sah ich ihn wieder.»

Petja, mittlerweile in den Sechzigern, fliegt noch immer regelmässig von Moskau nach Zürich, um seine Mutter zu besuchen.

«Er ist der einzige Grund, warum ich noch am Leben bin. Ich weiss nicht, wie ich so alt werden konnte nach allem, was ich erlebt habe, und nach so vielen Jahren Krankheit und Unterernährung», sinniert sie.

«Aber ich weiss, dass ich bei all dem Horror, den ich erlebte, trotzdem noch Glück hatte.»

swissinfo, Vanessa Mock
(Übertragung aus dem Englischen: Charlotte Egger)

Das System der Arbeitslager, auch Gulag genannt, wurde in den ersten Jahren von Stalins kommunistischem Regime (1927-1953) aufgebaut, um die Industriealisierung der Sowjetunion voranzutreiben.

Bis 1937 wuchs die Zahl der Gefangenen in den Gulags durch Stalins Massenverhaftungen und Säuberungen auf 2 Millionen.

In 20 Jahren starben mindestens 2 Millionen Menschen in den Lagern.

Viele nicht politische Gefangene wurden in den Monaten nach Stalins Tod, 1953, freigelassen.

Etwa 200 Schweizer Kommunistinnen und Kommunisten wanderten in den 1920er- und 30er-Jahren in die Sowjetunion aus.

Viele wurden in den Dreissigern unter Spionageverdacht ausgewiesen, andere kamen in einen Gulag.

Bekannt ist der Tod von 12 Schweizer Staatsangehörigen, die im Gulag starben oder von der Geheimpolizei verurteilt und erschossen wurden.

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