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«Das Urteil ist in weiten Teilen nachvollziehbar»

Strafrechtler Daniel Jositsch während der Urteilseröffnung vor dem Bezirksgericht Bülach. Ex-press

Gerechtigkeit sei ein relativer Begriff, sagt der Strafrechtler Daniel Jositsch nach der Urteilsverkündung im Swissair-Prozess im Gespräch mit swissinfo.

«In diesem Prozess wurde nur die strafrechtliche Seite beurteilt, es gibt aber auch noch eine moralische und eine zivilrechtliche Seite», betont Jositsch.

swissinfo: Die 19 ehemaligen Swissair-Verantwortlichen, die wegen verschiedener Delikte im Zusammenhang mit der Pleite angeklagt waren, sind freigesprochen worden und erhalten darüber hinaus hohe Entschädigungen. Sind die Angeklagten also unschuldig?

Daniel Jositsch: Nach Ansicht des Bezirksgerichts Bülach sind sie unschuldig im strafrechtlichen Sinn. Deshalb sind sie freigesprochen worden. Das ist allerdings erst die erste Instanz. Wir werden sehen, ob die Staatsanwaltschaft das Urteil weiter zieht. Je nachdem könnte es dann vor Obergericht zu einem anderen Ergebnis kommen.

swissinfo: Haben Sie dieses Urteil erwartet?

D.J.: Erwartet nicht, aber ich habe vermutet, dass es bei einzelnen Punkten, und zwar im wesentlichen dort, wo es um die unternehmerischen Entscheide ging, zu Freisprüchen kommen würde. Bei anderen Punkten wären Verurteilungen durchaus denkbar gewesen, insbesondere was den damals von Mario Corti angekündigten Milliardenkredit angeht. Da hat mich der Freispruch nicht überzeugt und ich zweifle, ob dieses Urteil Bestand haben wird.

swissinfo: War das Bezirksgericht Bülach von diesem Prozess mit so komplexen wirtschaftlichen Fragen überfordert?

D.J.: Ich glaube nicht, dass man hier von Überforderung sprechen kann. Das war ein spezieller Prozess und wäre es auch für ein anderes Gericht gewesen. Man muss sich aber schon grundsätzlich überlegen, ob es nicht zweckmässig wäre, auf kantonaler Stufe spezielle Gerichte einzurichten, die sich mit solch komplexen Fragen auseinander setzen. Denn es ist bedauerlich, dass das Bezirksgericht Bülach, das sich mit diesem Prozess nun ein spezielles Knowhow erarbeitet hat, dieses jetzt nicht weiter einsetzen kann, da es vermutlich nicht mehr mit einem solchen Fall zu tun haben wird.

swissinfo: Was hat die Richter zu den Freisprüchen bewogen?

D.J.: Bei den wirtschaftlichen Vorgehensweisen, wie Umstrukturierungen oder Investitionen in die Sabena, hat das Gericht den grundsätzlichen Entscheid getroffen, dass diese nur dann strafbar sein können, wenn Sorgfaltspflichten verletzt wurden und damit in Kauf genommen wurde, dass ein Schaden entsteht.

swissinfo: Populistisch ist dieses Urteil nicht. Ist es gerecht?

D.J.: Es ist sicher kein populistisches Urteil. Gerechtigkeit ist ein relativer Begriff, da sind Juristinnen und Juristen immer etwas vorsichtig. Doch es ist ein Urteil, das in weiten Teilen nachvollziehbar ist. Gewisse Punkte stellen allerdings Grenzfälle dar. Da muss man jetzt abwarten, ob eine nächste Instanz damit betraut wird und wie die dann allenfalls darüber entscheiden wird.

swissinfo: Was für Reaktionen könnte es auslösen, etwa bei Betroffenen, die ihren Job verloren haben?

D.J.: Da wird es wohl grössere Unzufriedenheit geben, besonders weil den Angeklagten noch Entschädigungen bezahlt werden sollen. Doch man muss sehen, dass in diesem Prozess nur die strafrechtliche Seite beurteilt wurde, es gibt auch noch eine moralische, eine zivilrechtliche Seite.

swissinfo: Was für ein Signal setzt dieses Urteil in der Bevölkerung?

D.J.: Das Wichtige an diesem Urteil ist, dass ein Umdenken in der Wirtschaft stattgefunden hat. Obwohl es nicht zu Verurteilungen gekommen ist, ist doch mittlerweile klar, dass Unternehmensführer und insbesondere Verwaltungsrätinnen und Verwaltungsräte eine Verantwortung haben, die sie wahrnehmen müssen. Wenn sie diese Verantwortung nicht wahrnehmen, laufen sie Gefahr, dass ihnen Verletzungen der Sorgfaltspflicht nachgewiesen werden können. Dann kann es auch einmal zu Verurteilungen kommen. Insofern ist das durch dieses Urteil gesetzte Signal einerseits, dass das Eingehen unternehmerischer Risiken nach wie vor zulässig ist und es auch bleiben soll. Andrerseits muss man aber darauf achten, dass man seine Sorgfaltspflichten einhält.

swissinfo: Der erste Prozess hat mit Freisprüchen geendet, was ist von den folgenden Prozessen zu erwarten?

D.J.: Das strafrechtliche Verfahren ist grundsätzlich vom zivilrechtlichen unabhängig. Letzteres ist noch offen. Und da genügt eben auch fahrlässiges Handeln für eine Verurteilung.

swissinfo-Interview: Susanne Schanda

Daniel Jositsch ist Professor für Strafrecht und Strafprozessrecht am Rechtswissenschaftlichen Institut der Universität Zürich.

6 Jahre nach der grössten Pleite in der Schweizer Wirtschaftsgeschichte hat der erste Strafprozess gegen 19 ehemalige Swissair-Verantwortliche stattgefunden.

Die Bekanntesten sind der letzte Chef der Swissair Mario Corti, der ehemalige Konzernchef Philippe Bruggisser, der ehemalige SAirGroup-Verwaltungsratspräsident und Konzernchef Eric Honegger, sowie die früheren Verwaltungsräte Thomas Schmidheiny, Vreni Spoerry, Lukas Mühlemann und Benedict Hentsch.

Alle Angeklagten wurden vollumfänglich frei gesprochen. Zudem wurden ihnen Entschädigungen in der Gesamthöhe von rund 3 Mio. Franken zugesprochen.

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