Die Realität bleibt der Statistik verborgen
Beim Thema Jugendkriminalität werden gerne die Statistiken bemüht: Doch ist es schwierig, aus den Zahlen eine realistische Entwicklung abzulesen.
Vor allem die Statistiker sind skeptisch. Unbestritten ist aber, dass Raubserien und Gewalttaten zugenommen haben.
Samstagabend Anfang August in der Zürcher Gemeinde Effretikon: Ein 16-Jähriger wird auf dem Heimweg von einer Gruppe von fünf jungen Männern angepöbelt. Plötzlich schlägt einer der Täter mit einem Holzstück auf das Opfer ein, bis dieses zu Boden geht. Auch dort wird weiter auf den wehrlosen Jugendlichen eingeschlagen. Mit schweren Prellungen am Kopf und am ganzen Körper wird das Opfer ins Spital eingeliefert.
Die Beute: ein Rucksack, etwas Bargeld, ein Ausweis, ein CD-Spieler. Die Täter: vier Schweizer, ein Italiener, alle nicht viel älter als das Opfer. Sie werden kurz darauf verhaftet und gestehen die Tat.
Vorfälle wie diese schockieren. Vor allem an Wochenenden werden Jugendliche von Jugendlichen ausgeraubt, oft unter Androhung oder Anwendung von Gewalt. In der Stadt Zürich gelten laut Stadtpolizei drei bis vier Übergriffe von Jugendlichen an einem normalen Wochenende als nichts Besonderes.
Steigende Gewaltbereitschaft
Die Gewaltbereitschaft der Jugendlichen ist laut Statistik deutlich angestiegen. Heute wird jedem fünften minderjährigen Tatverdächtigen ein Gewaltdelikt zur Last gelegt, 1982 war es jeder fünfundzwanzigste. Damit ist die Schweiz allerdings nicht allein: In nahezu allen europäischen Ländern hat die Jugendgewalt Ende der 80er bis Mitte der 90er Jahre deutlich zugenommen.
Die Ursachen für die Zunahme sind aber unklar: «Man muss den Anstieg relativieren», erklärt Daniel Fink, Sektionschef Rechtspflege im Bundesamt für Statistik (BFS). «Man weiss nicht genau, ob in der Realität, das heisst auf dem Pausenhof oder in der Freizeit, tatsächlich viel mehr passiert, oder ob mehr angezeigt wird und damit von der Justiz auch mehr behandelt wird.»
Möglicherweise reagiere man heute sensibler auf die Gewaltausübung. Zudem werde schneller die Polizei gerufen, was sich wiederum in der Statistik niederschlage. «Was früher vom Schuldirektor mit Disziplinarstrafen gelöst wurde, landet heute beim Jugendrichter.»
Kampf gegen Windmühlen
«Das Anzeigeverhalten wurde nicht besser», widerspricht Klaus Rohner vom Jugenddienst der Stadtpolizei Zürich. Vor allem beim Raubdelikt würden sich viele Jugendliche aus Angst vor Repressalien nicht getrauen, Anzeige zu erstatten. «Wir kämpfen dafür, Anzeigen zu bekommen, aber es ist ein Kampf gegen Windmühlen.» Bei einem Teil der Jugendlichen gehöre es fast schon zum Erwachsenwerden, dass man hin und wieder ausgenommen werde.
Trotz der Verschlechterung im Anzeigeverhalten nehme die Kriminalität im Kanton Zürich zu. «Was steigt, ist die Zunahme der Gewalt und zwar nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ.»
Unerklärliche kantonale Unterschiede
Die Statistiker vom Bund bleiben dennoch skeptisch. Denn nicht nur die in der Polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) erfassten Verzeigungen werfen Fragen auf, auch die von ihnen selbst geführte Jugendstrafurteils-Statistik (Jusus) zeigt kantonal höchst unterschiedliche Resultate und lässt nur bedingt Rückschlusse auf die Realität zu.
Laut Jusus erhöhte sich im Kanton Zürich die Zahl der Urteile zwischen 1999 und 2002 von 1941 auf 2419, während sie im Kanton Bern praktisch stabil blieb und sich im Kanton Waadt gar halbierte. 2002 wurde fast jedes fünfte Jugendstrafurteil im Kanton Zürich gefällt.
Ausländer und Schweizer
In der Romandie gibt es viel mehr Jugendliche mit Ausländerstatus als in der übrigen Schweiz. Dennoch ist der Unterschied zwischen den Verurteilungen zwischen Jugendlichen mit und ohne Schweizer Pass relativ gering. Dies ist vor allem bei Genf sehr ausgeprägt, das zwischen 35% und 40% Ausländerkinder hat.
Umgekehrt wurden im Jahr 2000 im Kanton Luzern dreimal mehr ausländische als Schweizer Minderjährige verurteilt. Im Kanton Appenzell Innerrhoden waren es mehr als doppelt so viele, während im Nachbarkanton Appenzell Ausserrhoden mehr Schweizer als Ausländer verurteilt wurden.
«Diese Unterschiede kann man nur mit einem sehr selektiven Vorgehen der Strafverfolgungs-Behörden erklären», betont Fink vom BFS.
Anteil der Kinder
Ähnlich grosse Abweichungen finden sich auch beim Alter der verurteilten Minderjährigen. Gesamtschweizerisch waren im Jahr 2000 25% der verurteilten Minderjährigen Kinder. Im Kanton Schwyz waren aber nur 8% der Verurteilten unter 15 Jahre alt, im Kanton Basel–Stadt hingegen waren es 42%.
«Solch grosse Unterschiede können nicht Ausdruck unterschiedlich häufigen Vorkommens von Kinderdelinquenz sein», schreibt Renate Storz vom BFS in einer Publikation der Caritas.
Kein Rückschluss auf Verhalten Jugendlicher
Die Statistiker gehen davon aus, dass sich sowohl das Anzeigeverhalten wie auch die Reaktionen von Polizei und Justiz relativ kurzfristig ändern können. «Die Zunahme bei Gewaltdelikten sollte deshalb nicht eins zu eins auf das Verhalten von Kindern und Jugendlichen übertragen werden», ist Storz überzeugt.
Vorsichtig im Umgang mit den Statistiken ist auch Barbara Schellenberg, Leiterin der Jugendanwaltschaft der Bezirke Affoltern und Dietikon im Kanton Zürich. Zwar zeige die neuste Verurteilten-Statistik des BFS über die letzten Jahre keine signifikante oder beunruhigende Zunahme der Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen. «Doch die Statistik sagt nichts über einzelne Fälle aus, wo Gewalt ein auffallendes Merkmal darstellt.»
«Mein persönlicher Eindruck ist, dass es tatsächlich Situationen gibt, wo Jugendliche in einer Art und Weise zuschlagen, wo ich den Eindruck habe, dass das früher so nicht passiert ist. Wenn einer blutend am Boden liegt, wird nochmals draufgeschlagen.»
Qualitative Veränderung
Dennoch: Die meisten von Jugendlichen begangenen Verstösse gegen das Strafrecht sind Bagatell-Delikte wie Ladendiebstahl oder Drogenkonsum. Auch bei den Gewaltdelikten überwiegen leichtere Formen wie Tätlichkeiten. Opfer sind zudem sehr oft junge Menschen der gleichen Altersgruppe.
Unbestritten bleibt, dass die Bereitschaft, Gewalt einzusetzen, sich in den letzten Jahren erhöht hat. Abgenommen hat zudem die Hemmung, jemandem aus nichtigem Anlass Gewalt anzutun. «Doch die Veränderungen fallen weniger durch ihre Quantität auf als durch ihre Qualität», fasst Jugendanwältin Schellenberger ihre Erfahrungen zusammen.
swissinfo, Hansjörg Bolliger
Jugendstrafurteile:
1999: 12’340
2002: 12’854
davon Urteile mit Gewaltstraftaten:
1999: 1233
2002: 1372
81% der Täter sind männlich
Die meisten von Jugendlichen begangenen Verstösse gegen das Strafrecht sind Bagatelldelikte wie Ladendiebstahl oder Drogenkonsum. Auch bei den Gewaltdelikten überwiegen leichtere Formen wie Tätlichkeiten. Opfer sind zudem sehr oft junge Menschen der gleichen Altersgruppe.
Gewaltdelikte machen rund 11% der Jugendstrafurteile aus. Betäubungsmittel-Konsum 37%, Diebstahl 28%, Sachbeschädigung 14%, einfache Körperverletzung 2,7%, Tätlichkeiten 3,5%.
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