Genfer Gefängnis Champ-Dollon unter Beschuss
Die Genfer Justiz setzt mutmassliche Kriminelle zu schnell und zu lange in Untersuchungshaft. Zu diesem Schluss kommt eine Expertengruppe.
Das Kantonsparlament hatte diese mit der Untersuchung der Zustände im chronisch überbelegten Gefängnis Champ- Dollon beauftragt.
Die vom Genfer Grossen Rat beauftragte Expertengruppe kritisiert in ihrem Bericht Justiz und Polizei.
Letztes Jahr sassen im 270-plätzigen Genfer Gefängnis durchschnittlich 472 Personen ein. Grund für die Überbelegung ist nach Ansicht der Experten einerseits die ungenügende Zahl von Untersuchungsrichterinnen und -richtern.
Bemängelt wird auch die Haltung der Justiz: Die Gerichtsbehörden hätten den Hang, mutmassliche Täter zu rasch in Haft zu nehmen.
Jede Woche sei nur ein einziger Richter für neue Fälle zuständig. Die Frist von acht Tagen, innerhalb derer über eine allfällige Haftverlängerung entschieden werden sollte, werde nicht respektiert.
Geheimniskrämerei
Der Anklagekammer wird im Bericht Geheimniskrämerei vorgeworfen. Über Haftverlängerungen entscheide sie hinter verschlossenen Türen. Das Recht der Beschuldigten auf Anhörung werde oft missachtet.
Diese Praktiken seien ebenfalls zu ändern; die Anhörungen müssten öffentlich sein. Im Palais de justice sei eine «Mentalitätsänderung» vonnöten.
Überbordende Polizeigewalt
Die Experten legen gleichzeitig den Finger auf die «überbordende Polizeigewalt». Bei Verhaftungen und Verhören komme es immer wieder zu übermässiger Gewaltanwendung.
Nach der Meuterei der Gefangenen im vergangenen Mai und einer Petition der Insassen war eine erste Untersuchung in Auftrag gegeben worden.
Demnach hätten sich in der vertraulichen Umfrage über 30% der 125 befragten Häftlinge über schlechte körperliche Behandlung beklagt. Bei 14 Betroffenen habe der Arzt Verletzungen festgestellt.
«Das ist viel zu viel», sagte der Mediziner Jean-Pierre Restellini.
Das Gutachten vom letzten Jahr kritisiert zudem die Überbelegung von Champ-Dollon. Eine Vergrösserung der Anlage allein reiche nicht aus, um die Probleme in den Griff zu bekommen. 60% der Insassen seien Untersuchungs-Häftlinge.
Bestohlene Insassen
Laut dem jüngsten Bericht soll einem Minderjährigen während der Befragung der Kopf mehrmals unter Wasser gehalten worden sein. Drei Personen hätten sich darüber beklagt, Polizeibeamte hätten ihnen Geld oder das Handy gestohlen.
Es handle sich hier offenbar nicht um Einzelfälle, wie einige Beamte zu verstehen gegeben hätten.
Die Experten schlagen vor, den Häftlingen die Inanspruchnahme eines Anwalts oder eines Arztes sofort nach der Inhaftierung zu erleichtern. Die Polizeidienste müssten durch eine eigentliche Kontrollinstanz überwacht werden.
swissinfo und Agenturen
Die Bundesverfassung sieht in Art. 48 vor, dass die Kantone für Fragen, die in ihre Kompetenz fallen, unter sich Abkommen schliessen können, so genannte Konkordate.
Diese Möglichkeit nutzen die Kantone im Bereich des Strafvollzugs.
Sie schlossen sich zur gemeinsamen Regelung und Organisation dieser Fragen zu drei Strafvollzugs-Konkordaten zusammen: Ostschweiz, Nordwest- und Innerschweiz sowie Romandie und Tessin.
In der Schweiz gibt es 9 geschlossene und 10 halboffene Anstalten. Dazu kommen zahlreiche Regional- und Untersuchungs-Gefängnisse. Insgesamt gibt es 122 Anstalten.
Per 6. September 2006 (Stichtag der letzten Erhebung) waren in der Schweiz:
Insgesamt 5888 Personen in Haft.
Davon 1808 in Untersuchungshaft.
Der Ausländeranteil betrug 69%.
Der Anteil Frauen 5,7%.
Von den Untersuchungs-Gefangenen waren 80% Ausländer, davon mehr als die Hälfte ohne Aufenthaltsbewilligung.
Durchschnittlich waren 87% aller Gefängnisplätze belegt.
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