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Jugendgewalt ist kein importiertes Problem

philippe Maeder/edipress

Fast jedes Wochenende kommt es zu neuen Gewalttätigkeiten von und unter Jugendlichen. Oft werden junge Ausländer verantwortlich gemacht. Neue Erkenntnisse zum alten Problem liefert Martin Killias.

Der Kriminalist und Strafrechts-Professor untersuchte – mit derselben Methodik wie in der Schweiz – die Situation in Südosteuropa. Dabei zeigte sich, dass dort die Jugendkriminalität vergleichsweise viel niedriger ist.

Sinnlose Gewalttaten von Jugendlichen häufen sich und schockieren die Öffentlichkeit. Nicht immer, aber oft, werden sie mit dem «Balkanproblem» in Beziehung gebracht. Statistiken scheinen dies zu belegen: Jugendliche aus Südosteuropa werden eher straffällig als Schweizer.

Nur: Das gilt für die Schweiz, nicht aber für Südosteuropa selber. Dort leben die Jugendlichen in völlig anderen familiären und gesellschaftlichen Strukturen, was Gewalttaten wie in der Schweiz stark reduziert – Verarmung und Kriegsverwahrlosung hin oder her.

Neu wird dieser Umstand auch zahlenmässig durch eine Untersuchung des international bekannten Kriminologen Martin Killias erhärtet. Und die Behauptung des «importierten Kriminalitätsproblems» lässt sich in dieser Vereinfachung nicht mehr aufrechthalten.

swissinfo: Sind die Jugendlichen in der Schweiz gewalttätiger geworden?

Martin Killias: Ja. Die banaleren Vergehen, wie Schlägereien, Schwarzfahren oder Ladendiebstahl, haben nicht zu-, sondern zum Teil sogar abgenommen. Aber schwere Verletzungen, schwere Aggressionen, auch sexuelle, haben zugenommen.

swissinfo: Zieht die Schweiz somit punkto Jugendgewalt mit dem Niveau der Nachbarländer gleich?

M.K.: Was die Jugend als Kategorie für sich allein genommen betrifft, kann ich es noch nicht sagen. Was die gesamte Kriminalität betrifft, so wies tatsächlich die Schweiz vor 20 Jahren deutlich weniger Delinquenz auf. Heute bewegt sie sich mindestens auf dem gleichen Niveau wie ihre Nachbarn.

swissinfo: Was sind die Gründe für diese Gewalt, besonders jene ausländischer Jugendlicher?

M.K.: In der Tat weisen Jugendliche mit Migrationshintergrund höhere Raten auf. Nicht so sehr bei den Massen- als bei den schweren Gewaltdelikten. Dennoch kann die These der «importierten Gewalt», die man üblicherweise dahinter vermutet, nicht so richtig überzeugen.

Dank der Hilfe des Aussenministeriums haben wir in Bosnien-Herzegowina und einigen anderen Ländern vergleichbare Studien über Jugend-Delinquenz durchgeführt – dieselben wie in der Schweiz, was Methode, Fragen und Vorgehen betrifft.

So zeigte sich in Bosnien zum Beispiel, dass die Jugend-Delinquenz deutlich bescheidener ausfällt als in der Schweiz. Das ist eine Überraschung, denn es widerlegt die populäre These, man habe mit den jungen Balkanesen eine Gewalt-Kultur gewissenmassen von aussen in die Schweiz gebracht.

Die Überraschung beschönigt die nachweisbare Delinquenz der Ausländer in der Schweiz in keiner Weise. Aber es entkoppelt deren Verhalten vom Umstand ihrer Herkunft.

Daraus lässt sich folgern, dass unser Schweizer Gewaltproblem hausgemachter ist als wir bis vor kurzem noch dachten. Diese Jugendlichen wachsen hier offenbar anders auf als zu Hause. Hier gestalten sie zum Beispiel ihre Freizeit anders.

swissinfo: Diese Einwanderer stammen häufig aus den ärmsten Schichten. Ist es denkbar, dass viele von ihnen den Begriff Freizeit gar nicht kennen?

M.K.: Schweizer fördern ihre Kinder ganz selbstverständlich mit Sport oder Musik oder machen sie mit zahlreichen Hobbys bekannt. Darauf sind die Eltern ausländischer Jugendlicher gar nicht richtig vorbereitet. Deren Kinder sitzen dann vermehrt vor der Glotze oder dem Computer oder gehen auf die Strasse. So beginnen dann die Probleme.

In der alten ländlichen Schweiz kannte man auch noch keine Hobbies. Unsere Grosseltern mussten nach der Schule in den Stall und dann ins Bett. Kinder mussten mithelfen. Nur wanderten diese Schweizer damals kaum aus.

swissinfo: Ist damit auch schon gesagt, was die Gesellschaft in der Schweiz gegen die Jugend-Delinquenz unternehmen kann?

M.K.: Ja. Jugendliche aus Migrantenfamilien sollten stärker auf solche Freizeitbeschäftigungen hingeführt werden, die auch uns gängig und sinnvoll erscheinen.

swissinfo: Politische Parteien machen Lösungsvorschläge zur Gewaltbekämpfung. Aber kaum in diese Richtung. Die politische Rechte verlangt Ausschaffung, die Linke Integration.

M.K.: Mir geht es nicht darum, Lösungen auf politischer Ebene vorzuschreiben. Auch Vorschläge wie Ausschaffen sind nicht rundherum falsch und können in Einzelfällen sogar sinnvoll sein. Sanktionen im Jugendstrafrecht sind zu diskutieren. Doch sie alle betreffen das jugendliche «Balkanproblem» nicht direkt.

Da wäre es eben angesagt, sich vermehrt mit den ausserschulischen Aktivitäten dieser Jungen zu beschäftigen.

swissinfo: Was halten Sie von Repressionen?

M.K.: Unser Jugendstrafrecht stammt aus einer Zeit, als unter-15-Jährige noch kaum etwas anrichteten. Heute, wo auch diese Altersgruppe delinquiert, haben wir keine Sanktionen. Mehr erzieherische Repressionen, sprich Schranken, könnten schon viel bewirken.

swissinfo: Und die Eltern? Tun sie zu wenig?

M.K.: Ich habe etwas dagegen, wenn man immer die Eltern anschwärzt. Eltern können Kinder nicht ausserhalb der Strukturen erziehen. In einer 24-Stunden-Gesellschaftsstruktur, wo die Busse bis um 3 Uhr morgens fahren, gibt es viel weniger Repressionsmöglichkeiten zu Hause, wenn der Junge oder das Mädchen statt um 23 erst um 2 Uhr auftaucht.

Früher gab es keinen öffentlichen Verkehr mehr nach 23 Uhr. Damit löste sich das Problem auch erzieherisch von selbst. Verpasste ein Kind den letzten Zug, konnte es draussen bis um 6 Uhr morgens frieren – eine Alternative gab es nicht.

Vielleicht müsste man sich diese 24-Stunden-Gesellschaft nochmals überlegen. Nur hat auch das mit dem «Balken-Problem» wenig zu tun.

Interview Alexander Künzle

Martin Killias, 1948 in Zürich geboren, ist seit 2006 Ordinarius für Straf-, Strafprozessrecht und Kriminologie am rechtswissenschaftlichen Institut der Uni Zürich.

Er studierte in Zürich Recht und Soziologie.

Nach dem Anwaltsexamen 1980 arbeitete er an der State University of New York at Albany.

Ab 1982 arbeitete er an der Uni Lausanne und leitete dort bis 2006 das Institut für Kriminologie und Strafrecht.

Killias war an zahlreichen Universitäten als Gastprofessor und bei der UNO und beim Europarat als Experte in Kriminologie und Strafrecht tätig.

Er war 2001 Gründungsmitglied und 1. Präsident der europäischen Gesellschaft für Kriminologie.

Seit 1984 arbeitet Killias als nebenamtlicher Bundesrichter.

Die Kriminologie gilt als interdisziplinäres Forschungsgebiet aus Soziologie, Philosophie, Pädagogik, Psychologie, Ethnologie und Rechtswissenschaften.

Kriminologen befassen sich mit Ursachen, Formen und Präventions-Möglichkeiten von kriminellen Handlungen.

Kriminologie ist nicht Kriminalistik.

Bei der Kriminologie werden Erkenntnisse bezüglich Ursachen und Erscheinungsformen von Kriminalität gewonnen.

Bei der Kriminalistik geht es um konkrete Fragestellungen der Verhütung, Bekämpfung und Aufklärung von Straftaten.

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