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«Kantone müssen Spielraum nutzen»

Anstehen für eine Mahlzeit: Ohne ein Solidaritätsnetz haben weggewiesene Flüchtlinge kaum genug zum Überleben. Keystone

Bei der Nothilfe für abgewiesene Asylsuchende herrsche in den Kantonen Willkür, kritisiert die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH). Sie pocht auf die Bundesverfassung, die allen ein Recht auf Hilfe in Notsituationen garantiert.

Seit 2004 erhalten abgewiesene Asylsuchende in der Schweiz keine Sozialhilfe mehr. Sie können aber bis zum freiwilligen Verlassen des Landes oder bis zu ihrer Wegweisung bei den Kantonen Nothilfe beziehen.

Dies soll nicht nur die Bundeskasse entlasten, sondern auch die Schweiz als Asylland unattraktiv machen. In einer Untersuchung kommt die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) zum Schluss, dass die Kantone die Nothilfe generell gewährleisten. Punkto Höhe und Unterbringung stellt die Hilfsorganisation aber beträchtliche Unterschiede fest.

«Die Nothilfe reicht teilweise nicht aus, um zu überleben», sagt Muriel Trummer, Juristin und Autorin des SFH-Berichts «Nothilfe an abgewiesene Asylsuchende».

Hilfsorganisationen, Kirchen und private Netze müssten deshalb Aufgaben übernehmen, die eigentlich Sache der Behörden seien.

4,25 Franken für einen Tag

Die Spanne reicht laut Trummer von 4,25 bis 11,50 Franken Nothilfe pro Tag und Bezüger. Dieses Geld muss für Essen und Artikel der Körperpflege ausreichen. «Das Gleichheitsgebot gebietet aber einheitliche Ansätze in der ganzen Schweiz», bemängelt die Autorin.

Das untere Ende der Unterbringungs-Skala illustriert die Juristin am Beispiel Basel-Stadt. Bezügern von Nothilfe stehe dort weder eine Kochgelegenheit noch eine Waschmaschine zur Verfügung. «Zu einem menschenwürdigen Dasein gehört aber, dass man sich eine warme Mahlzeit zubereiten kann», sagt Muriel Trummer.

Zudem seien die Bezüger in Zivilschutzanlagen untergebracht, die sie tagsüber mit sämtlicher persönlicher Habe verlassen müssten, auch in der kalten Winterzeit.

Schwerwiegende Vorwürfe richtet die Flüchtlingshilfe an die Kantone St. Gallen und Tessin. Letzterer war übrigens der einzige Kanton, der sich nicht am SFH-Vergleich beteiligt hat. Während psychisch-kranke Asylbeantrager in einzelnen St. Galler Gemeinden zusammen mit anderen in Zivilschutzanlagen untergebracht werden, verweigert der Südschweizer Kanton kranken Menschen offenbar generell Nothilfe.

Damit verletze der Kanton Tessin die Bundesverfassung, hält SFH-Generalsekretär Beat Meiner fest. Artikel 12 der Bundesverfassung spreche jedem Menschen ein Recht auf Hilfe in Notlagen zu.

Eine Lotterie

Das Bundesgericht habe diesbezüglich Klarheit geschaffen, unterstreicht Muriel Trummer. «Es hat festgehalten, dass das Recht auf Hilfe in Notlagen für alle Menschen gilt, um ihnen ihre Würde zu sichern und sie vor einer Bettelexistenz zu bewahren.» Dieses Recht dürfe zudem nicht an Bedingungen geknüpft werden wie jene, dass die Menschen bei der Wegweisung kooperieren müssten.

Die Unterschiede machten die Nothilfe zur Lotterie, da die Antragsteller nach dem Zufallsprinzip auf die Kantone verteilt würden. Die uneinheitlichen Bestimmungen begünstigten zudem Willkür. «Es kann vorkommen, dass Menschen sogar innerhalb desselben Kantons nicht gleich behandelt werden», so Meiner.

Er fordert, dass das Grundrecht auf Nothilfe respektiert wird und für alle Menschen gilt. «Es gibt nicht eine Menschenwürde für Afrikaner und eine solche für Schweizer.»

Abtauchen statt Ausreisen

Autorin Muriel Trummer weist weiter darauf hin, dass es problematisch sei, wenn sich dieselbe Behörde sowohl um die Nothilfe als auch die Wegweisung kümmere. Minimale Leistungen, Meldepflicht und ständige Kontrollen erzeugten permanenten Druck, dem die Betroffenen mit dem Gang in die Illegalität ausweichen würden, sagt Trummer.

Es sei Illusion zu glauben, dass alle Menschen mit einem negativen Asylentscheid die Schweiz verlassen würden, sagt auch Meiner. «Unsere Erfahrung ist vielmehr, dass Menschen, die so viel Mühsal und Kosten in Kauf nahmen, um in die Schweiz zu gelangen, alles unternehmen, um hier zu bleiben.»

Handlungsspielraum

Missstände zeigten sich auch im Kanton Bern. Dieser verwehre Kindern von abgewiesenen Asylsuchenden den Anspruch auf ausreichenden Unterricht an öffentlichen Schulen, hält Verfasserin Muriel Trummer fest.

Stattdessen erlaubten die Behörden, die Kinder direkt in zwei Nothilfezentren zu unterrichten. Dies aber nur während sechs Lektionen pro Woche, während die Grundschüler in 38 Schulstunden unterrichtet würden.

Auch das Kostenargument, das bei der Einführung des Sozialhilfestopps ins Feld geführt worden war, sticht laut der SFH nicht, denn die Entlastung der Bundesfinanzen sei nur eine vordergründige.

«Wenn die Menschen derart prekarisiert werden, führt das zu schrecklichen Lebensbedingungen mit Folgen wie Mangelernährung, Stress und fehlender medizinischer Versorgung. Und diese schlagen sich wiederum in hohen Gesundheitskosten nieder», sagt Generalsekretär Beat Meiner.

Zwar gewährten praktisch alle Kantone Nothilfe. Besser sei aber, wenn es die Behörden gar nicht soweit kommen lassen würden, postuliert die Flüchtlingshilfe. Denn das Gesetz räume den Kantonen das Recht ein, im Einzelfall vom Sozialhilfestopp abzusehen. «Die Behörden müssen diesen Handlungsspielraum nutzen», fordert Beat Meiner.

swissinfo, Renat Künzi

Im Sommer 2008 lebten in der Schweiz knapp 17’000 abgewiesene Asylsuchende, die vom Sozialhilfestopp betroffen waren.
Gemäss Angaben der Kantone bezogen rund 3500 Personen Nothilfe.
Es ist nicht bekannt, ob die übrigen rund 13’500 Menschen die Schweiz verlassen haben oder als Sans-Papiers weiter im Land leben.

Nicht alle Kantone gewähren Weggewiesenen mit Sozialhilfestopp den Zugang zu Nothilfe.

Aufgrund erheblicher kantonaler Unterschiede bei der Nothilfe ist das Gebot der Gleichbehandlung verletzt.

Nothilfebezüger werden oft nicht angemessen untergebracht, d.h. nicht nach Geschlechtern getrennt und ohne Koch- und Waschgelegenheit.

Die Nothilfe reicht teilweise nicht für ein menschenwürdiges Dasein aus. Die Betroffenen sind auf Solidaritätsnetze angewiesen.

Die Behörden passen die Nothilfe zuwenig den Bedürfnissen der so genannt Verletzlichen an. Dazu zählen Familien mit Kindern, Schwangere, alleinstehende Frauen, Kranke, unbegleitete Jugendliche oder Gebrechliche.

Besonders Verletzliche gehören nicht in die Nothilfe, fordert die Flüchtlingshilfe.

Fazit: Individuelle Situationen werden von den Behörden zu wenig geprüft. Zudem wenden diese den Sozialstopp zu schematisch an. Der vom Gesetz vorgesehene Spielraum wird nicht genügend ausgeschöpft.

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