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Langer Marsch zur Demokratie

Irakerinnen in der Schweiz beten für ihr Land. swissinfo.ch

Im Irak rückt die Abstimmung über die Verfassung näher. Exil-Iraker in der Schweiz beobachten den politischen Prozess in ihrer Heimat aufmerksam.

Eine irakische Familie in der Schweiz spricht mit swissinfo über die Hoffnung auf Demokratie und eine Rückkehr in die alte Heimat.

In der Schweiz leben rund 6700 irakische Staatsangehörige. Laut dem irakischen Konsulat in Genf wurden dieses Mal keine Vorkehrungen getroffen, damit auch diese Exil-Iraker am 15. Oktober zur Urne gehen können.

Salahaddin Al Beati lebt mit seiner Familie in Buchs im Kanton Aargau und schaut mit Schrecken die TV-Nachrichten aus seinem Heimatland, das in sektiererischer Gewalt und im Chaos versinkt.

Er und seine Ehefrau Iman hoffen auf eine Verfassung, die von allen ethnischen Gruppen des Landes akzeptiert wird und ein erster Schritt zur Wiederherstellung der Ordnung wäre. Das Land sei von all den Jahren Krieg, Diktatur und ethnischer Gewalt erschöpft.

«Wir haben 40 Jahre in einer Diktatur gelebt. Es war uns nicht bewusst, dass das Land uns gehört. Wir haben keine Erfahrung mit der Demokratie. Es wird seine Zeit dauern, aber der Irak wird zu einem demokratischen Staat werden», betont Al Beati.

Angehörige leben in Angst

Die Familien beider Eheleute in Bagdad mussten alle Fenster ihrer Häuser ersetzen, weil sie bei Autobombenanschlägen zerbarsten. Die Schwester der Frau ist aus Sicherheitsgründen wieder bei ihren Eltern eingezogen.

Alltägliches wie der Einkauf sind risikoreich und machen Angst. Der Alltag in der irakischen Hauptstadt wird zusätzlich erschwert durch die zerstörte Infrastruktur: Wasser und Strom gibt es nur sporadisch.

Gefragt, ob das Leben für die Irakis besser oder schlechter geworden ist, seit Saddam Hussein 2003 abgesetzt wurde, antwortet Al Beati: «Die Zustände sind schlimm und wir haben unsere Sicherheit verloren. Aber wir haben die Freiheit gewonnen.»

Diktator vor Gericht

Die Abstimmung über die Verfassung findet wenige Tage vor dem geplanten Prozessbeginn gegen den Ex-Diktator und mehrere Mitglieder seines Regimes statt. Sie werden wegen der Tötung von 143 Schiiten im Dorf Dudschail im Jahre 1982 bezichtigt. Das Massaker folgte einem Anschlag auf den Diktator.

Aus der Sicht von Al Beati ist der Prozess ein wichtiger Meilenstein für die Geschichte des Landes. Er mahnt seine Mitbürger allerdings, Nachsicht walten zu lassen.

«Saddam hat viele Fehler gemacht. Aber wenn wir eine Demokratie aufbauen wollen, müssen wir von der Todesstrafe absehen und die Kriminellen stattdessen ins Gefängnis stecken.»

Flucht in die Schweiz

Die Familie Al Beati lebte unter der eisernen Faust des Saddam-Regimes, bis sie 1996 aus dem Land floh. Al Beati, Lebensmittelhändler und Physiker, wurde verhaftet und eingesperrt, weil er irakische Dinar in Dollar getauscht hatte, um seine Lieferanten bezahlen zu können. Nur knapp entging er der Exekution.

«Wir hatten grosse Angst», erinnert sich seine Frau. «Die Geheimpolizei hat unser Haus durchsucht, und ich hatte Angst um meine beiden kleinen Söhne.»

Mit seinen Ersparnissen bezahlte das Ehepaar die Flucht nach Europa. Ziel war England, die Schlepper brachten sie stattdessen in die Schweiz. Innerhalb von acht Monaten erhielt die Familie den Flüchtlingsstatus zugesprochen.

Unterdessen ist die Familie gut integriert, träumt aber immer noch von der Rückkehr in ihre Heimat, sobald die politische Situation stabil ist.

Iraker in der Schweiz

Ihre grosse Wohnung ist zum Treffpunkt für Irakerinnen und Iraker aus der ganzen Region geworden. Jeden Mittwoch lädt Frau Al Beati rund 20 Irakerinnen und Schweizerinnen ein.

«Irakische Frauen sind oft sehr isoliert», erklärt sie. «Manchmal werden sie von ihren Männern weggeschlossen. Wir haben einer Frau geholfen, die zehn Jahre lang eingeschlossen war und nie Kontakt zu ihren Schweizer Nachbarn oder irakischen Frauen gehabt hatte.»

Die Al Beatis planen, einen Treffpunkt zu eröffnen, wo Frauen Deutsch und Kinder Arabisch lernen können. Finanziert wird das Projekt von der irakischen Botschaft in Paris und der Eidgenössischen Ausländer-Kommission. Die Lehrer haben sich bereit erklärt, nur für einen Unkostenbeitrag zu arbeiten.

Das Ehepaar produziert auch zwei bis dreimal monatlich bei Kanal K, dem freien Radio in Aarau, eine einstündige Sendung. Dort diskutieren sie über das Leben in der Schweiz und Politik in der Heimat und schicken irakische Musik in den Äther.

Sie lieben den Frieden

Die meisten Irakerinnen und Iraker liebten den Frieden, betonen beide. Nur wenige verträten die Ansicht, ihre Religion und Kultur werde vom Westen angegriffen. «Diese Leute sind eine gefährliche Minderheit.»

«Wir treffen viele gut ausgebildete Landsleute. Aber einige, die hier leben, können nicht einmal lesen», erklärt Al Beati. «Als Vorsteher der Gemeinde habe ich die Aufgabe, möglichst viele zu erreichen und mich um ihre Probleme zu kümmern.»

Er hat es sich auch zur Aufgabe gemacht, Fehlkonzeptionen auf beiden Seiten des kulturellen Grabens anzugehen, die seit den Anschlägen in New York und Washington gewachsen sind.

«Im Irak wurde mir gesagt, ‹alle Probleme kommen aus dem Westen›. Dann kam ich in den Westen und hier wurde mir gesagt, dass alle Probleme vom Islam kommen. Beide Annahmen sind falsch», sagt er. «Wir müssen Wege finden, uns gegenseitig zu verstehen.»

swissinfo, Julie Hunt
(Übertragung aus dem Englischen: Philippe Kropf)

In der Schweiz leben rund 6700 Irakerinnen und Iraker. Rund die Hälfte hat eine unbeschränkte oder mehrjährige Aufenthaltsbewilligung.
Die andere Hälfte sind Asylbewerber und vorübergehend aufgenommene Flüchtlinge.
Zwischen Januar und August 2005 wurden 289 Asylanträge von irakischen Staatsbürgern gestellt – 19% wurden gewährt.

Salahaddin und Iman Al Beati flohen 1996 aus dem Irak und leben seither im Kanton Aargau. In der Region wohnen rund 200 Irakerinnen und Iraker.

Das Ehepaar engagiert sich stark für die irakische Gemeinde. Im Gespräch mit swissinfo erzählen die beiden, welche Hoffnung sie in die kommende Abstimmung legen.

Am 15. Oktober stimmt das irakische Volk über eine neue Verfassung ab.

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