Lautstarke Begrüssung in Damaskus
Wie in jedem muslimischen Land werden die Gläubigen auch in Syrien unüberhörbar von Muezzinen an die fünf täglichen Gebete erinnert. Unüberhörbar sind sie heute allerdings nur noch, weil sie ihre Botschaft elektronisch deutlich verstärkt verkünden.
Fünf Mal am Tag legt sich ein einzigartiger Sprechgesang über den üblichen Lärmsalat, was die meisten Gläubigen zwar nicht innehalten lässt – man darf das Gebet verschieben – aber auch den «Ungläubigen» überdeutlich auf die im Gegensatz zu westlichen Gesellschaften grosse öffentliche Bedeutung der Religion aufmerksam macht.
Der Ruf dauert jeweils drei bis fünf Minuten und besteht im Wesentlichen aus dem Bekenntnis «Allahu akbar», Gott ist gross. Die Stimmlage und Melodie ist für westliche Ohren eher ungewohnt und kann kombiniert mit Heiserkeit oder Erkältung des Vorbeters schon mal abenteuerliche Klänge erzeugen.
Am Puls
Mein Zuhause im Herzen Damaskus› liegt nur wenige Schritte vom Wahrzeichen der syrischen Hauptstadt, der berühmten, nach Mekka und Medina drittheiligsten (sunnitischen) Moschee und entsprechend mit Lautsprechern grosszügig ausgestatteten Umayyaden Moschee entfernt.
Ich wohne folglich in bester Hörlage und habe mehrmals täglich ausgiebig Gelegenheit, mir über dieses Phänomen Gedanken zu machen. Damit kein falscher Leidenseindruck entsteht, soll an dieser Stelle gesagt werden, dass der Gebetsruf für mich mittlerweile fest zum gelungenen Erlebnis «Damaskus» dazu gehört.
Nach ungefähr einer Woche wurde ich frühmorgens jeweils nicht mehr abrupt aus den Träumen gerissen, nach zwei Wochen fiel er mir kaum mehr auf, und wenn ich in ein paar Monaten in die Schweiz zurückreise, werde ich ihn wahrscheinlich vermissen.
Hohe Anpassungsfähigkeit
Die menschliche Anpassungsfähigkeit ist erstaunlich. Was mich am ersten Morgen unvermittelt aus dem Schlaf schrecken liess, nehme ich nun kaum mehr wahr. Es soll ja Menschen geben, die sich einzig und allein des Vergnügens willen, noch einmal weiterschlafen zu können, absichtlich eine halbe Stunde zu früh wecken lassen.
Durch meinen Aufenthalt hier kann ich das nun deutlich besser verstehen und tatsächlich sogar diesem Weckruf etwas Positives abgewinnen. Einzig dem Freitagsgebet werde ich wohl keine Träne nachweinen. Es wird ebenfalls in voller Lautstärke übertragen und hat, zumindest für mich Arabischanfängerin, spätestens nach Anbruch der zweiten Stunde die Tendenz, monoton zu werden.
Im Moment bin ich aber noch neben der Moschee wohnhaft und geniesse die Ehre, den angeblich einzigen sunnitischen Muezzinchor miterleben zu dürfen. Der Chor besteht aus ca. acht älteren und jüngeren Männern, die sich neben ihrer Arbeit als Ladenbesitzer, Handwerker oder professioneller Teetrinker fünf Mal pro Tag hinter das Mikrofon stellen – ehrenamtlich versteht sich.
Freiwillige Gebetsrufer
Einzig für das Frühgebet vor Sonnenaufgang sind die Ränge offensichtlich etwas gelichtet. Im Gegensatz zu manch anderem hier funktioniert die Absprache einwandfrei, und die Stadt wird zuverlässig zu früher Stunde aus den Federn geholt.
Der Ansturm von Freiwilligen, die von den Minaretten die Gläubigen zum Gebet rufen möchten, ist gross und die Selektion dementsprechend streng. Gemäss einem Interview in einem lokalen Magazin gelten folgende Auswahlkriterien für die Aufnahme in den wohl prestigeträchtigsten sunnitisch-sakralen Chor: Eine schöne Stimme, eine klare Aussprache und ein grosses Stimmvolumen.
Das mit dem Volumen kann ich vollumfänglich bestätigen. Dank jahrelanger Übung und viel Inbrunst wird die Belastbarkeit der Mikrofone arg strapaziert. Die Aussprache hat Hochs und Tiefs und scheint sich insgesamt – sofern dies mit meinen bescheidenen Kenntnissen der heiligen Sprache beurteilt werden kann – nicht sehr vom Alltagsarabisch abzuheben.
Zur schönen Stimme nur so viel: Der Glaube kann wohl Berge versetzen, aber offensichtlich keine Stimmen.
Franziska Sigrist, Damaskus, swissinfo.ch
Immer häufiger reisen auch junge Leute für längere Zeit ins Ausland, sei das zum Studieren, Forschen oder für ein Stage.
Zu ihnen gehört auch Franziska Sigrist, die ab September bis Ende Jahr ein Praktikum an der Schweizer Botschaft in Damaskus macht.
Von dort berichtet sie für swissinfo.ch über ihre Erlebnisse. Sie vertritt in der Postkarte ihre persönlichen Ansichten.
Franziska Sigrist ist 27 Jahre alt. Sie hat an den Universitäten Bern und Bordeaux Politikwissenschaften und internationales Recht studiert und im Frühsommer 2008 abgeschlossen.
Anschliessend bereiste sie mit ihrem Freund in einem Camper während einem Jahr den Nahen und Mittleren Osten (Türkei, Syrien, Jordanien, Iran).
Ab September bis Dezember 09 absolviert sie bei der Schweizer Botschaft in Damaskus ein Praktikum.
Auch in früheren Jahren verbrachte sie längere Zeit im Ausland: 2006 für sechs Monate in Äthiopien, wo sie für ihre Lizentiatsarbeit zum Thema «Nachhaltige Wasserpolitik» forschte und zwei Praktika (UNICEF, NGO WaterAid) machte.
2005 war Franziska Sigrist zu einem Menschenrechtseinsatz in Mexiko und 2004 für ein Praktikum im Bereich der Internationalen Entwicklungs-Zusammenarbeit in Bonn.
Nebst ihrer Muttersprache Deutsch spricht Franziska Sigrist Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und lernt nun Arabisch. Sie fotografiert auch gerne und spielt Klavier.
E-Mail-Adresse: franziska.sigrist@sunrise.ch
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