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Orientalische Gastfreundschaft

Gastfreundschaft wird überall im Orient gross geschrieben, wie hier in Jordanien. (Franziska Sigrist)

"Salam Aleikum! Unser Haus ist euer Haus." Mit diesem traditionellen Gruss werden mein Freund und ich von einer syrischen Grossfamilie empfangen. Es folgt ein Abend herzlichster Gastfreundschaft, Kernstück arabischer Kultur.

Nachdem ich den männlichen Familienmitgliedern im Empfangsraum vorgestellt wurde, lasse ich meinen Freund mit ihnen zurück und werde in den Frauenraum geführt. Fremde (nicht familieninterne) Männer haben hier keinen Zutritt.

Unverschleierte jüngere und ältere Frauen sitzen bequem auf Teppichen und Kissen am Boden, einen dampfenden «schai» (Tee) in der Hand, ein paar Kinder unterbrechen kurz ihr Spiel, um mich interessiert zu mustern, die Grossmutter schläft in der Ecke, behutsam zugedeckt.

Welches Land ist besser?

Mit viel Mimik und Gestik und mit Hilfe eines kleinen Sprachführers («Kauderwelsch» sei Dank) versuche ich, mich mit meinen bescheidenen Arabisch-Kenntnissen mit den neugierigen Gesprächspartnerinnen zu verständigen. Es geht überraschend gut.

Gesprächsthema Nummer eins: die Familie. Bist du verheiratet? Warum hast du keine Kinder? Was arbeitest du? Ohne dass sie die Antwort abwarten, folgt bereits die nächste Frage, derweilen einige Französisch- oder Englischkundige den anderen das soeben Gesagte übersetzen.

Gesprächsthema Nummer zwei: Das Image Syriens, oder konkreter, wie mir Syrien gefällt. Schon mehrfach wurde mir die Frage gestellt, ob Syrien oder die Schweiz «besser» sei. Aus unserer Sicht lässt sich das so eigentlich nicht beantworten, aber das hilft wenig, wenn zwölf Ohren auf eine Antwort warten. Diese ist heikel, gehen doch die Zuhörenden wohl insgeheim davon aus, dass die Schweiz «besser» sei, auch wenn sie gleichzeitig sehr stolz sind auf ihr Land.

Diplomatie ist gefragt, und so weiche ich aus, mit der Feststellung, dass beide Länder Vorteile hätten, aber hier in Syrien die Menschen besonders freundlich seien. Eine Antwort, die offensichtlich gefällt. Zumindest interpretiere ich das allerseits freundliche Nicken und die anschliessende angeregte familieninterne Diskussion so.

Die nahe und ferne Verwandtschaft

Unsere Anwesenheit spricht sich schnell herum, und in rascher Folge füllt und leert sich das Zimmer mit Bekannten und Verwandten. Arabische Familien haben in der Regel einen wirklich grossen Verwandtenkreis, der zudem häufig praktischerweise gleich nebenan wohnt.

Alle wollen einen Blick auf uns erhaschen. Schliesslich sind nicht alle Tage Fremde aus dem fernen Ausland zu Gast. Mit jedem Neuankömmling wird eine weitere Runde Tee oder Kaffee serviert.

Unter Tee versteht man übrigens ein halbes Glas Zucker, das mit heissem Teewasser aufgelöst wird. Der Kaffee ist sehr aromatisch, mit viel Kardamon gewürzt, ebenfalls äusserst süss und so stark, dass jeweils das halbe Tässchen als Satz zurück bleibt.

Toleranz

Derweil hat sich mein Freund im Männersaal offenbar so gut benommen, dass wir zusammen die Ehre haben, in einem dritten Zimmer mit der Familie zu speisen. So bekommt er die nun alle mit einem Kopftuch bedeckten und angesichts seiner Anwesenheit ständig kichernden Frauen doch noch zu sehen.

Das leckere Reis-Poulet-Gericht wird mit Hilfe von Fingern und Fladenbrot gegessen. Wir bekommen mit einem Schmunzeln Besteck zugesteckt. Überhaupt sind unsere Gastgeber, was angesichts ihres eher konservativen Hintergrundes nicht selbstverständlich ist, bemerkenswert verständnisvoll und tolerant.

Ohne sie darum zu ersuchen, erhalten wir später die Erlaubnis, gemeinsam in einem Raum zu übernachten. Dies, obwohl wir uns zum allgemeinen grossen Erstaunen als nicht-verheiratet geoutet haben. Sie seien sich bewusst, dass das in unserer Kultur anders gehandhabt würde. Wir sind echt beeindruckt und fühlen uns gleichzeitig etwas unwohl, weil wir wissen, dass dies hiesigen zentralen kulturellen Normen widerspricht.

Gemeinschaft über alles

Sie selber schlafen in denselben Zimmern, auf denselben Teppichen und Kissen, auf denen sie tagsüber die Gäste willkommen heissen. Persönliche Gegenstände sind selten und Privatsphäre kaum vorhanden. Ständig leben sie in der Gemeinschaft, allein sein gilt als asozial, gar unmenschlich.

In Restaurants beispielsweise wird neben dem eigenen teils ungefragt ein zweites Teeglas serviert, es muss ja noch jemand kommen. Wir verstehen jetzt besser, warum ihnen der (nord-)westliche Lebensstil wenig gesellig und kalt erscheint.

Am nächsten Morgen erhalten wir ein ausgezeichnetes Frühstück mit eigenen Oliven, salzigem Käse, hausgemachter Konfitüre, Butter, Hummus (ein Kichererbsenmus) und frischem Fladenbrot.

Der Abschied von den uns lieb gewordenen Menschen ist sehr herzlich, und wieder wird uns versichert «‹beitna – beitkum›!» (unser Haus ist euer Haus) und wir sollen doch bald wieder kommen. «Inscha’allah!»

Franziska Sigrist, Damaskus, swissinfo.ch

Immer häufiger reisen auch junge Leute für längere Zeit ins Ausland, sei das zum Studieren, Forschen oder für ein Stage.

Zu ihnen gehört auch Franziska Sigrist, die von September bis Ende 2009 ein Praktikum an der Schweizer Botschaft in Damaskus macht.

Von dort berichtet sie für swissinfo.ch über ihre Erlebnisse. Sie vertritt in der Postkarte ihre persönlichen Ansichten.

Franziska Sigrist ist 27 Jahre alt. Sie hat an den Universitäten Bern und Bordeaux Politik-Wissenschaften und internationales Recht studiert und im Frühsommer 2008 abgeschlossen.

Anschliessend bereiste sie mit ihrem Freund in einem Camper während einem Jahr den Nahen und Mittleren Osten (Türkei, Syrien, Jordanien, Iran).

Ab September bis Dezember 09 absolviert sie bei der Schweizer Botschaft in Damaskus ein Praktikum.

Auch in früheren Jahren verbrachte sie längere Zeit im Ausland: 2006 für sechs Monate in Äthiopien, wo sie für ihre Lizentiatsarbeit zum Thema «Nachhaltige Wasserpolitik» forschte und zwei Praktika (Unicef, NGO WaterAid) machte.

2005 war Franziska Sigrist zu einem Menschenrechtseinsatz in Mexiko und 2004 für ein Praktikum im Bereich der Internationalen Entwicklungs-Zusammenarbeit in Bonn.

Nebst ihrer Muttersprache Deutsch spricht Franziska Sigrist Englisch, Französisch, Spanisch, Italienisch und lernt nun Arabisch. Sie fotografiert auch gerne und spielt Klavier.

E-Mail-Adresse: franziska.sigrist@sunrise.ch

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