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Röstigraben in Sachen Jugendstrafvollzug

Jugendlicher Straftäter in seiner Zelle der geschlossenen Anstalt Granges im Kanton Wallis. Keystone

Die Romandie und die Deutschschweiz haben nicht die gleichen Vorstellungen in Sachen Strafvollzug für Minderjährige.

Während die einen nach mehr Platz in geschlossenen Anstalten rufen, finden die andern, die jetzigen Strukturen seien ausreichend.

Wenn das neue Strafgesetzbuch 2005 oder 2006 in Kraft tritt, werden sich diese unterschiedlichen Sichtweisen noch stärker artikulieren. Schon heute ist aber die Situation – nach Meinung der Jugendrichter in der Romandie – «unhaltbar».

«Sie wissen nicht mehr, wo sie die jungendlichen Gewalttäter noch unterbringen sollen», sagt Henri Nuoffer, Sekretär des noch im Aufbau begriffenen Strafvollzugs-Konkordates der Westschweiz, im Hinblick auf die neuen Aufgaben, die das neue Gesetz stellen wird.

Und Jean Zermatten, Walliser Jugendrichter und Mitgestalter des neuen Jugendstrafrechtes in der Schweiz, war der erste, der das laut sagte.

Um die Aussage zu bekräftigen, weist er auf die jüngsten Zustände im Kanton Genf hin, wo kürzlich wieder 31 minderjährige Straftäter unter unzulässigen Verhältnissen inhaftiert wurden, nämlich zusammen mit erwachsenen Straftätern.

Die 15 Plätze in der La Clairière, einem Gefängnis speziell für Jugendliche, seien schon heute belegt. Auch dass im laufenden Jahr 15 neue Plätze geschaffen würden, genüge bereits nicht mehr, sagen die Behörden in Genf.

Zahlen, die wenig aussagen

Hier nun beginnt die «Schlacht der Zahlen», die vom Bundesamt für Justiz (BJ) bestritten werden. Es stützt sich auf Angaben des Bundesamtes für Statistik, das seinerseits die Zahlen in den Strafanstalten erhoben hat.

«Am 3. September 2003 waren in der ganzen Schweiz 43 Jugendliche zusammen mit erwachsenen Straftätern eingesperrt», erklärt Priska Schürmann, Chefin der Sektion Straf- und Massnahmenvollzug im Bundesamt für Justiz.

Doch auch Schürmann moniert, wie die meisten andern Beteiligten, einen Mangel an verlässlichen Zahlen. Erst im Jahr 2002 begann das BJ die inhaftierten Jugendlichen zu zählen.

Trotzdem, niemand kann sich die unterschiedlichen Zahlen in der Romandie und der Deutschschweiz erklären; es sei denn, die Anstalten würden keine genauen Zahlen liefern.

Jugendliche und Erwachsene gemischt

Dass allerdings 43 jugendliche Straftäter zusammen mit erwachsenen Strafgefangenen in derselben Anstalt einsitzen, ist nicht gut. Da sind sich alle Beteiligten einig.

Und alle wissen um die Gefahren, die hier lauern. «Das ist eine Schule des Verbrechens», sagt Christian Varone, Direktor der Walliser Strafanstalten.

Das Ziel einer Strafmassnahme bei Jugendlichen sei ihre Wiedereingliederung in die Gesellschaft. Wenn ein junger Mensch schon eingesperrt sei, dann solle er wenigstens den richtigen Rahmen und die Erziehungsmöglichkeiten vorfinden, damit eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft gelingen könne.

Wenn das nicht möglich sei, dann bedeute dies, dass etliche Jugendliche ihre Gewalt nicht mehr unter Kontrolle brächten und in psychischen Problemen verharren würden.

Das wiederum bedeute, dass diese Jugendlichen nicht mehr in die «halboffenen» Erziehungsanstalten aufgenommen werden könnten, weil sie für diese Häuser eine Gefahr darstellten, sagt Pierre Valotton, Strafvollzugs-Direktor im Kanton Waadt.

«Wir hatten diesbezüglich grosse Probleme in der Clairière», sagt Constantin Fransiskakis, Chef des Genfer Strafvollzugs-Amtes. «Wir mussten die Gitterstäbe verstärken und den Zaun erhöhen.»

Und Fransiskakis weiter: «Auch mussten wir einen Wärter im Gefängnis von Champ-Dollon für drei Monate von der Arbeit entbinden, nachdem er von einem aggressiven Zögling angefallen worden war.» Das sei ein Novum in der Schweiz.

Übrigens: Die Verhältnisse für gewalttätige junge Frauen sind ähnlich prekär. Man schätzt, dass es allein in der Romandie rund 20 sind. Für sie gibt es keine geschlossenen Anstalten mit entsprechenden Strukturen. Sie würden ständig ausbrechen und sich dann in den Strassen herumtreiben.

Die andere Lesart

«Es ist eine Tatsache! Auch wenn in den vergangenen 20 Jahren die Zahl der Delinquenten nicht zugenommen hat, erhöhte sich doch die Zahl der Gewalttaten um das Drei- bis Vierfache. Darunter auch Tötungsdelikte, was früher äusserst selten war», sagt Nicolas Queloz, Professor für Strafrecht und Kriminologie an der Universität Freiburg.

Es erstaune deshalb nicht, dass sich die Zahl der Straftaten Jugendlicher, die zur Anzeige gelangten, zwischen 1990 und 2000 praktisch verdoppelt habe.

Laut dem Bundesamt für Statistik sind sie jedoch konstant geblieben. In seinem Jahresbericht 2003 hält das Bundesamt fest, dass im Verhältnis zur Gesamtzahl der Jugendlichen in der Schweiz «die These, wonach die Gewalt-Kriminalität von Jugendlichen stark zunehme, nicht zutrifft».

Der Professor aus Freiburg schätzt denn, dass es in der ganzen Schweiz rund 60 junge schwer erziehbare Delinquenten gebe, welche eigentlich in geschlossenen Erziehungsanstalten leben müssten. Das im Verhältnis zu den 12’000 Sanktionen, welche pro Jahr in der Schweiz ausgesprochen werden.

Und nun verlange ausgerechnet die Romandie, dass allein in der Westschweiz rund hundert geschlossene Gefängnisplätze geschaffen werden müssten. «Ich verstehe nicht, wie die auf diese Zahl kommen», wundert sich Christoph Bürgin, Jugendrichter und Präsident der Schweizerischen Vereinigung für Jugendstrafrechts-Pflege.

«Es braucht schon eine gewisse Zahl von jugendlichen Straftätern, die zu Haft in geschlossenen Anstalten verurteilt werden, um überhaupt solche Anlagen zu bauen. Und diese Art von Verurteilung gibt es nur in ganz schweren Fällen: Raub, Vergewaltigung oder Mord», fügt Bürgin bei.

Weniger Panikmache

Bei den Richtern und anderen Verantwortlichen in der Deutschschweiz herrscht eine etwas nuanciertere Betrachtungsweise vor. Für sie genügen die momentanen Strukturen oder können sehr schnell den Gegebenheiten angepasst werden.

Doch auch hier anerkennt man das Problem, das entsteht, wenn jugendliche Straftäter mit erwachsenen Strafgefangenen zusammengelegt werden. «Das kann jedoch vorkommen», sagt Florian Frauchiger, Sekretär des Konkordates der Ostschweiz.

Sein Kollege in der Zentralschweiz anerkennt, dass man in der Deutschschweiz vielleicht etwas im Rückstand sei. «Mit dem neuen Strafgesetz wird man nicht umhin kommen, einen Rahmen allein für die jungendlichen Straftäter zu schaffen», betont Florian Frauchiger.

Basel hat übrigens kürzlich ein Dutzend Plätze für jugendliche Untersuchungshäftlinge geschaffen, die von den Erwachsenen getrennt sind. «Das genügt», findet Christoph Bürgin.

Auch in Horgen im Kanton Zürich wurden im Gefängnis 11 Plätze speziell für verurteilte Jugendliche geschaffen.

Unterschiedliche Mentalitäten

Sind diese unterschiedlichen Sichtweisen durch die verschiedenen Mentalitäten der Landesteile zu erklären, oder wird das Strafrecht in den Landesteilen unterschiedlich ausgelegt?

«Etwas von beidem», meint Nicolas Queloz. «Schon seit rund zwanzig Jahren steht diese fast zwanghafte Forderung der welschen Richter nach geschlossenen Anstalten zuoberst auf der Prioritätenliste. Demgegenüber sagen die Erzieher an der Basis, dass sie diese gar nicht wünschen.»

Auch die Zahlen sprechen ein deutliches Bild: Die Einweisung in eine geschlossene Anstalt wird in der Romandie öfter ausgesprochen als in der Deutschschweiz.

Genf stellt mit 19,4% aller Verurteilungen den Rekord. Der schweizerische Durchschnitt beträgt lediglich 2%. Und davon sind nur 0,4% länger als 30 Tage inhaftiert.

Dabei wenden auch die Genfer Richter all die Formen der Rüge und Verweise an, so auch Mediations-Verfahren.

Es bleibt aber dabei: Die Deutschschweiz befürwortet generell die erzieherischen Massnahmen in ihrer Arbeit mit jungen Straftätern stärker als die Westschweiz.

Kulturell liegt der Romandie die napoleonisch-autoritäre Tradition, wie sie in Frankreich üblich ist, näher. Die Deutschschweiz richtet sich mehr nach Deutschland aus, wo die erzieherischen Massnahmen höher gewichtet werden als die Repression.

swissinfo, Anne Rubin
(Übertragung aus dem Französischen: Urs Maurer)

1990: 6803 gerichtlich verurteilte Jugendliche

2002: 12’845 gerichtlich verurteilte Jugendliche

2002: 340 Jugendliche verwahrt, davon 113 in eine Erziehungsanstalt eingewiesen

Das neue Strafgesetz für Minderjährige wurde vom Parlament am 20. Juni 2002 verabschiedet. Es wird 2005 oder 2006 in Kraft treten.

Im Gegensatz zum angelsächsischen Recht werden in der Schweiz die erzieherischen Straf-Massnahmen bevorzugt. Das neue Gesetz bestraft vor allem die schweren Fälle (bis vier Jahre Haft) und schont die «kleinen» Delinquenten.

Wenn sie länger als 14 Tage dauert, erfolgt die Untersuchungshaft in einer von Erwachsenen getrennten Struktur und einem dem jungen Menschen entsprechenden Umfeld.

Die welschen Kantone sind dabei, ein Strafvollzugs-Konkordat für jugendliche Straftäter zu schaffen. In der deutschsprachigen Schweiz gibt es zur Zeit keine solche Institution.

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