«Unser System braucht keine kleinen Prinzen»
Die Elternbildung soll auf nationaler Ebene als Weiterbildung gesetzlich verankert werden, fordert der Schweizerische Bund für Elternbildung. Kommt nach der obligatorischen Ausbildung für Hundehalter nun die Lizenz für Eltern?
Andy Tschümperlin, Präsident des Schweizerischen Bundes für Elternbildung (SBE) und sozialdemokratischer Nationalrat, geht es dabei nicht darum, sich ins Privatleben der Eltern einzumischen. Ziel sei es, das Erziehungsangebot zu koordinieren und Qualitätssicherung zu betreiben.
swissinfo: Ist eine «gute» Erziehung lernbar?
Andy Tschümperlin: Ja, davon bin ich überzeugt. Es gibt Phasen im Leben, da kommen Eltern an ihre Grenzen. Nach der Geburt, beim Schuleintritt oder während der Pubertät des Kindes sind sie gefordert.
Die Herausforderungen an die Eltern sind heute viel grösser, gerade was die Pubertät der Kinder betrifft. Ich habe als langjährige Lehrperson festgestellt, dass viele Eltern Fragen haben und Unterstützung brauchen.
Da macht es Sinn, in Elternbildungs-Veranstaltungen den eigenen Erziehungsstil kritisch zu hinterfragen und mit anderen Eltern und Fachkräften darüber zu diskutieren.
Die Vielfalt dieser Weiterbildungs-Möglichkeiten zeigt das Bedürfnis einer koordinierenden, harmonisierenden Gesetzgebung auf Bundesebene.
swissinfo: Was für das eine Kind richtig ist, gilt nicht unbedingt für das andere. Welcher Erziehungsstil soll denn als gesetzmässiger vermittelt werden?
A.T.: Wir visieren keinen speziellen Stil an. Es geht nicht darum zu sagen, was die richtige Erziehungsmethode ist. Denn DIE Erziehung gibt es nicht. Gerade die Schulen zeigen, dass Erziehung nicht uniform ist.
Wir fordern einfach, dass die Qualität des Elternbildungs-Angebots durch einen professionellen Verband geprüft wird. Es geht nicht an, dass keine Qualitätssicherung stattfindet.
Weiter möchten wir, dass die Eltern überall niederschwellig solche Kurse besuchen können. Neben den gut ausgebildeten Eltern, die sich sehr stark mit Erziehungsfragen auseinandersetzen und sich sowieso weiterbilden, möchten wir auch bildungsferne Eltern und Migrationsfamilien erreichen.
swissinfo: Besteht durch eine gesetzliche Verankerung der Elternbildung nicht die Gefahr, dass Eltern ohne einen solchen Kurs a priori als schlechtere Eltern gelten?
A.T.: Nein, überhaupt nicht. Es geht einfach darum, ein flächendeckendes Elternbildungs-Angebot zu bieten. Denn es bestehen Riesenunterschiede zwischen Stadt und Land. In der Stadt ist das Angebot sehr vielfältig, auf dem Land äusserst mager.
swissinfo: Heute verfügen zahlreiche Eltern über ein viel grösseres theoretisches Erziehungswissen als frühere Generationen. Führen all die Kurse und Ratgeberbücher nicht vielmehr zu Verunsicherung und Selbstvorwürfen?
A.T.: Nein, überhaupt nicht. Das sehe ich als Vater von vier Kindern aus eigener Erfahrung. Der Austausch unter Eltern und die Überprüfung des Erziehungsstils in Elternbildungs-Kursen tut allen gut.
Die kürzlich veröffentlichte Studie des Schweizerischen Nationalfonds «Kindheit und Jugend in der Schweiz» zeigt, dass ein partizipativer Erziehungsstil wichtig ist, damit sich ein Kind gut entwickeln kann. Dieser Erziehungsstil ist den Eltern nicht in die Wiege gelegt, den müssen sie sich aneignen.
swissinfo: Kommt diese Forderung nicht einer Bevormundung der Eltern gleich?
A.T.: Es geht nicht darum, den Eltern irgendwelche Kompetenzen wegzunehmen oder sich einzumischen, sondern ihre Kompetenzen zu stärken, damit sie die Erziehungsaufgabe möglichst gut ausführen können.
Eine Gesellschaft hat ein Interesse daran, dass ein hoher Prozentsatz der Eltern gute Erziehungsarbeit leistet. Unser System braucht diese Eltern.
swissinfo: Die Gegner einer solchen Elternbildung könnten Ihnen Einmischung ins Privatleben vorwerfen.
A.T.: Selbstverständlich hat die Erziehung auch eine sehr private Seite. Aber sie hat auch eine öffentliche: Die Kinder und die Eltern sind ein Teil der Öffentlichkeit.
In der Schule zeigt sich auch, wie wichtig die Elternbildung ist. Es gibt heute Erziehungsformen, die kleine Prinzen hervorbringen. Das bringt in unserem Bildungssystem sehr viele Probleme und Nachteile mit sich.
Unser System ist darauf ausgerichtet, dass sich der einzelne zurücknehmen kann. Heute haben viele Schüler Mühe damit. Kinder wachsen als Einzelkinder auf, das ist innerhalb einer Klasse spürbar.
Selbstverständlich muss die Schule sich an diese Situation anpassen. Aber auf der anderen Seite müssen solche Fragen auch mit den Eltern diskutiert werden.
swissinfo-Interview: Corinne Buchser
Die Dachorganisation Schweizerischer Bund für Elternbildung (SBE) wurde 1967 gegründet.
Elternbildung (Kurse, Vorträge, Gruppen- und Projektarbeit, offene Gesprächsrunden) wird in der Schweiz von rund 1000 verschiedenen Organisationen angeboten.
Der SBE will die Elternbildung als Teil eines Weiterbildungs-Gesetzes auf nationaler Ebene verankern.
Dabei soll der Bund den SBE beauftragen, diese in allen Sprachregionen der Schweiz zu vernetzen und die Qualität dieser Angebote sicherzustellen.
Am 6. und 13. September 2008 findet im Rahmen des nationalen Lernfestivals der 10. Schweizerische Elternbildungtag statt.
Während des Lernfestivals, das vom 4. bis 14. September dauert, werden in der ganzen Schweiz rund 1200 Workshops und Veranstaltungen organisiert.
Der Schwyzer absolvierte das Lehrerseminar und anschliessend die Weiterbildung zum Reallehrer. Heute arbeitet er als Schulleiter in Zug.
Er ist seit 2007 Nationalrat der Sozialdemokratischen Partei (SP).
Seit Juni 2008 ist er Präsident des Schweizerischen Bunds für Elternbildung (SBE).
Tschümperlin ist verheiratet und Vater von vier Kindern.
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