«Wir orientieren uns an den Fortschritten»
Seit zwei Jahren lebt Benoît Meyer-Bisch in Afghanistan. Der 30-jährige Jurist arbeitet als Menschenrechtsberater für die Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Gegenüber swissinfo.ch schildert er seinen Arbeitsalltag und die Lage im Land.
Die Deza ist seit 30 Jahren in Afghanistan tätig. Seit dem Sturz des Taliban-Regimes 2002 hat sie ihre Hilfe auf die Bedürfnisse besonders verletzlicher Bevölkerungsgruppen wie die intern Vertriebenen und die zurückkehrenden Flüchtlinge konzentriert.
Die Deza setzt sich heute gezielt für gute Regierungsführung und die Einhaltung der Menschenrechte ein. Auch die Verbesserung der Lebensbedingungen benachteiligter Bevölkerungsgruppen ist ihr Ziel.
swissinfo.ch: Sie arbeiten für die Deza in Kabul, um die Einhaltung der Menschenrechte zu verbessern: Was tun Sie konkret?
Benoît Meyer-Bisch: Ich habe hier eigentlich drei Aufgaben: Ich bin erstens Programmbeauftragter, das heisst, dass ich die Projekte und Programme direkt betreue. Konkret geht es um ein Ausbildungsprojekt im Bereich Staatskunde in mehreren Dörfern im Norden, um die Unterstützung der Zivilgesellschaft, der unabhängigen Menschenrechts-Kommission und darum, dass die Regierung im Bereich Menschenrechte von einer Expertenstelle eingeschätzt wird.
Zweitens berate ich das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) und die Deza in ihren Strategien bei Menschenrechtsfragen.
Auch mit den afghanischen Partnern arbeite ich zusammen: Ich spreche mit ihnen über ihre Strategien, die institutionellen Prozesse und über ihre Rolle als Menschenrechtsbeobachter (Advocacy).
Der dritte Teil meiner Arbeit in Afghanistan besteht darin, Netzwerke aufzubauen. Die Schweiz ist sehr klein. Wenn wir alleine für die Menschenrechte kämpfen, haben wir wenig Erfolg. Aus diesem Grund müssen wir mit den anderen Geberländern, mit der afghanischen Bevölkerung und den Institutionen zusammenarbeiten. Ich habe für die Deza diese Netzwerke aufgebaut und bewege mich darin.
swissinfo.ch Können Sie uns ein Beispiel geben?
B.M-B.: Letztes Jahr gab es grosse Probleme mit dem «Shia Law». Es hätte die schiitischen Frauen benachteiligt und die Menschenrechte verletzt. Dieses Gesetz hat eine internationale Reaktion hervorgerufen, und auch hier in Afghanistan regte sich Widerstand. Alle zusammen haben es geschafft, dieses Gesetz zu verhindern. Wenn wir unsere Kräfte zusammenbringen, können wir viel ändern.
swssinfo.ch: Sie arbeiten mit afghanischen Menschenrechts-Institutionen wie der Menschenrechts-Kommission zusammen. Funktionieren diese Institutionen?
B.M-B.: Im Jahr 2002 gab es nichts. Heute gibt es eine unabhängige afghanische Kommission für Menschenrechte, die überall tätig ist und das ganze Land im Auge behält. Sie besteht aus Einheimischen und ist sehr professionell geworden.
Leider wird die Kommission nicht vom Staat finanziert. Das ist ein Teil meiner Arbeit, die Dauerhaftigkeit dieser Kommission abzusichern. Bis jetzt wird sie von den Geberländern finanziert.
Die Menschenrechtskommission ist nicht Teil der Regierung. Sie wird in der Verfassung vorgeschrieben. Es ist ein staatliches Instrument, aber nicht ein Regierungsinstrument.
swissinfo.ch: Wie funktioniert die Zusammenarbeit mit dem Justizministerium?
B.M-B.: Sehen Sie, der Kampf gegen das «Shia Law» hat uns gezeigt, dass wir die Kommission oder zivile Gruppen noch so lange unterstützen können, wie wir wollen: Wenn es in der Regierung niemanden gibt, der sich mit Menschenrechten auskennt, werden noch andere Gesetze kommen, die völlig menschenrechts-widrig sind. Gesetze zu schaffen ist nicht das Mandat der Kommission der Zivilgesellschaft.
Deshalb haben wir angeregt, im Justizministerium ein «Human Right Support Unit» zu schaffen, eine Abteilung, die sich bei jedem Gesetz damit befasst, ob es menschenrechtskonform ist. Es gehört zu meinen Aufgaben, das strategische Vorgehen dieser Abteilung zu verfolgen und die Strategie vertieft mit den anderen Geberländern anzuschauen.
swissinfo.ch: Wie wird das Bewusstsein für die Menschenrechte in der Bevölkerung gestärkt?
B.M-B.: Ich erarbeite nun einen Kurs für Ausländer, die hier mit der Bevölkerung zusammenarbeiten. Er zeigt, wie sich der Islam und die Menschenrechte verbinden lassen. Die Leute sollen sehen, dass Menschenrechte nicht eine westliche Idee sind, sondern in ihrer Religion verankert sind.
Es gibt sehr viele Leute, die sehr religiös sind, und wir müssen die Religion als Eintrittspforte nehmen. Es gibt ziemlich viele Punkte, die mit dem Islam übereinstimmen, was die Menschenrechte betrifft.
swissinfo.ch: Wie ist die Menschenrechtsituation in Afghanistan jetzt?
B.M-B.: Die Leute in Afghanistan reagieren sehr sensibel auf Verletzungen ihrer Rechte. Ihnen widerstrebt alles, was das Leben von anderen Leuten gefährdet oder auslöscht.
Wenn Zivilpersonen angegriffen werden und sterben, ruft das sehr viele Reaktionen hervor, nicht nur, wenn die internationalen Truppen Menschen töten, auch wenn es die Taliban sind, die Zivilisten umbringen. Es gibt auch zahlreiche Menschenrechtsverletzungen gegenüber Frauen.
swissinfo.ch: Zweifeln Sie manchmal am Sinn Ihrer Arbeit?
B.M-B.: Klar gibt es Momente, in denen wir ein bisschen deprimiert sind. Aber wir orientieren uns an den Fortschritten. Zum Beispiel diskutierte die Menschenrechtskommission mit den Amerikanern und der internationalen Gemeinschaft und der afghanischen Regierung den Zugang zu Bagram, der grössten amerikanischen Militärbasis in Afghanistan.
Seit vier Jahren versucht die Kommission, Zugang zu den Gefängnissen dort zu erhalten. Und dieses Jahr haben sie zum ersten Mal Zutritt bekommen, einen generellen Zugang.
swissinfo.ch: Was gibt es noch zu tun?
B.M-B.: Wir haben zwar Fortschritte gemacht, aber es gibt noch sehr viel zu tun. Die Diskriminierungen und die Ungleichheiten, speziell was die Frauen betrifft, sind nach wie vor sehr gross. So dürfen Frauen beispielsweise nicht aus dem Haus gehen und sind von der Zustimmung der Männer abhängig.
Kinder werden auch diskriminiert. Die Qualität der Schulen in den Dörfern lässt häufig zu wünschen übrig. Es gibt keine Religionsfreiheit hier. Die Medienfreiheit hat sich zwar verbessert, aber es gibt immer noch grosse Einschränkungen. Und die Bewegungsfreiheit ist überhaupt nicht gewährleistet.
Nicht nur für uns, auch für die Afghanen. Die Todesstrafe wird noch vollzogen, und es gibt eine sehr grosse Straffreiheit. Schuldige werden nicht vor Gericht gebracht, sondern geniessen Schutz. Hier werden noch Menschen gefoltert, es gibt viele illegale Verhaftungen und Korruption und vieles mehr.
Afghanistan, offiziell Islamische Republik Afghanistan, leidet seit Jahrzehnten unter blutigen Auseinandersetzungen.
Bis 1973 war Afghanistan ein Königreich, nachher wurde es zur Republik.
1979 übernahmen die Kommunisten die Macht. Sie konnten sich nur mit sowjetischer Hilfe an der Macht halten.
1979 entwickelte sich der Bürgerkrieg zu einem Stellvertreterkrieg zwischen der sowjetischen Besatzungsmacht und den von den USA, Saudi-Arabien und Pakistan unterstützten Widerstandskämpfern, den Mudschaheddin.
1989 zogen sich die sowjetischen Truppen zurück. Die verschiedenen Mudschaheddin-Gruppierungen bekämpften sich gegenseitig, und es entbrannte erneut ein Bürgerkrieg.
Ab 1995 begannen die radikal-islamischen Taliban das Land zu erobern. Unter ihrer Herrschaft wurden Musik, Sport, Bilder und Fernsehen verboten. Männer wurden gezwungen, Bärte zu tragen, und Frauen durften nur noch mit männlicher Begleitung und einer Burka (Ganzkörperschleier) das Haus verlassen. Frauen und Mädchen durften weder zur Schule noch einer Berufstätigkeit nachgehen.
Nach den Anschlägen von 11. September 2001 vermutete die US-Regierung, dass sich Teile der Al-Kaida in Afghanistan aufhalten würden. Deshalb führten die USA zusammen mit anderen Staaten eine Invasion durch.
Die Taliban versuchen, mit Anschlägen das Land zurückzuerobern. Die Sicherheitslage in Afghanistan ist prekär.
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