Adieu, Velo-Vignette, oder auf Wiedersehen?
Ein schweizerisches Unikat steht kurz vor dem Aus: Die Velo-Vignette, das heisst die obligatorische Haftpflichtversicherung für Radfahrende. Das Parlament will diesen Aufkleber abschaffen. Am 16. Juni wird der Ständerat darüber entscheiden.
«Vignetten»-Aufkleber auf Fahrzeugen gehören seit Jahrzehnten zum festen Folklorebestand des Verkehrsbilds in der Schweiz. Während Franzosen und Italiener tagein, tagaus vor Maut-Häuschen Schlange stehen müssen, um Autobahngeld zu zahlen, hat die Schweiz mit der Vignette schon früh eine Art «Jahres-Generalabonnement» für ihr Autobahnnetz eingeführt.
Ausländische Transit-Fahrende und Schweiz-Besucher müssen an der Grenze eine Autobahn-Vignette für ihr Auto erstehen, die der Maut in Deutschland oder dem «Pickerl» in Österrreich entspricht.
Ausländische Velofahrer hingegen, die mit ihrem Fahrrad in die Schweiz kommen, müssen keine Vignette kaufen.
Während die Autobahn-Vignette eine Nutzungsgebühr für die Nationalstrassen ist, umfasst die Velo-Vignette eine obligatorische Versicherung, auch für Dritte.
50 Jahre gutes Funktionieren
Das nationale Vignetten-Obligatorium stammt aus dem Jahr 1960. In einigen Kantonen geht es sogar bis ins 19. Jahrhundert zurück. Die Haftpflicht-Garantie wurde durch ein behördlich ausgestelltes rotes Metalltäfelchen am Schutzblech über dem Hinterrad befestigt.
In den 90er-Jahren ist das Metalltäfelchen durch Selbstkleber abgelöst worden. Diese sind am Bahn- oder Postschalter, im Einkaufszentrum oder bei Verkehrs-Organisationen erhältlich. Versichert ist der Velofahrer jedoch nur, wenn die Vignette auch aufgeklebt ist. Wird sie gestohlen, muss man eine neue kaufen.
Während dem halben Vignetten-Jahrhundert hat die velofahrende Schweizer Bevölkerung – rund 42% – nie gegen diese aufbegehrt.
Dennoch hielt der Thurgauer Christdemokratische Ständerat Philipp Stähelin den Zeitpunkt für gekommen, dieses behördliche Stück Helvetiens abzuschaffen.
Überflüssig oder dennoch nötig?
Im Dezember 2008 hatte Stähelin eine parlamentarische Initiative eingereicht, in der er die Abschaffung der Velo-Vignette vorschlägt. Sie sei nicht mehr zeitgemäss, denn 90% der Bevölkerung habe ohnehin eine private Haftpflichtversicherung, die auch Verpflichtungen gegenüber Dritten einschliesst. Es genüge, diese Versicherung auch auf Schäden auszuweiten, die durch Radfahrer verursacht würden.
Ausserdem seien Polizeikontrollen an Fahrrädern selten und ein guter Teil der Velos habe bereits heute keine Vignette mehr, so Stähelin. Und schliesslich würden bei der Vignette 20% des Preises für Herstellung, Verteilung und Logistik rund um diesen Aufkleber aufgewendet, womit der Verwaltungsaufwand zu gross sei.
Diese Argumente haben jedoch weder den Bundesrat noch die Mehrheit der vorbereitenden nationalrätlichen Kommission überzeugt. Diese halten die Velo-Vignette weiterhin für ein effizientes System, da es mit einer an sich bescheidenen Prämie von 5 bis 10 Franken pro Jahr vollumfänglich die Probleme sowohl von Beschädigten wie auch von Verursachern von Veloschäden decke, und zwar ohne Komplikationen und lange bürokratische Vorläufe.
Versicherungsloch und befürchteter Prämienanstieg
Würde man hingegen die Vignette abschaffen, riskiere man ein Versicherungsloch für jene 10% der Bevölkerung, die nicht haftpflichtversichert sind, also vor allem jene Leute, die wirtschaftlich und sozial vernachlässigt sind.
Weiter wird befürchtet, dass die Erweiterung der privaten Haftpflichtversicherung auf Fahrräder zu einem Prämienanstieg führen könnte.
Zu guter Letzt gälte es dann auch noch die Situation für jene Fahrzeuge mit Tempolimiten wie angetriebene Behindertenfahrzeuge, Handkarren oder leichte Fahrräder zu regeln, die heute über die Velo-Vignette Versicherungsschutz geniessen.
Die grosse Mehrheit des Ständerats jedoch teilt Stähelins Ansicht. 2009 wurde seine parlamentarische Initiative angenommen. Im August stimmte die vorbereitende nationalrätliche Kommission ebenfalls oppositionslos zu, womit der übliche Weg der Gesetzesrevision offen liegt.
Falls es nicht noch zu Überraschungen kommt, ist das Schicksal der Velo-Vignette damit wohl bald besiegelt. In der Vernehmlassung zum Vorprojekt der Revision des Bundesgesetzes über den Strassenverkehr im vergangenen Februar und März sprachen sich die Mehrzahl der Kantone und Parteien für eine Abschaffung des Velo-Haftpflichtobligatoriums aus.
Populär, aber nicht unter Politikern
Unter den Parteien sind nur die Sozialdemokraten gegen ein Abschaffen der Vignette. Innerhalb der Minderheit, die daran festhält, finden sich auch die Kantone Graubünden und Tessin. Zu den Verteidigern des heutigen Systems gehören auch Pro Velo Schweiz und der Verkehrs-Club der Schweiz (VCS), also die Lobby-Organisationen der Velofahrer.
Populär ist die Vignette also in Radfahrer-Kreisen. Doch genügt das wohl nicht, um das System zu bewahren. Sollte das Parlament die Vignette und damit das Haftpflichtobligatorium abschaffen, ist noch nicht sicher, ob das dadurch entstehende Loch durch eine subsidiäre Versicherungsdeckung kompensiert wird.
Diese Deckung würde, so schlägt der Ständerat vor, vom Nationalen Garantiefonds (NGF) übernommen. Dieser kommt für Sach- und Personenschäden auf, die von unbekannten und unversicherten Fahrzeugen, auch Fahrrädern, verursacht werden.
Um die Position der von einem solchen Schaden Betroffenen gegenüber vorher nicht zu verschlechtern, schlägt die Regierung den Räten einen direkten Zugang zum NGF vor.
Solche und andere Details werden am 16. Juni vom Ständerat untersucht. Geht es nach dem Wunsch der Kommission, sollte der parlamentarische Parcours der Revision noch dieses Jahr beendet sein. Die geänderten Gesetzesbestimmungen würden dann im Januar 2012 in Kraft treten.
Ein Referendum seitens der Vignettenbefürworter erscheint eher unwahrscheinlich.
Sonia Fenazzi, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)
Die Velo-Vignette ist eine obligatorische Haftpflicht-Versicherung.
Sie muss jährlich neu gekauft und ans Fahrrad geklebt werden.
Fährt man ohne Vignette Velo, riskiert man eine Busse von 40 Franken.
Die Vignette wird zwischen 5 und 8 Franken verkauft.
Es wird ein Schaden von maximal 2 Mio. Franken versichert.
Das Velo selbst ist mit der Vignette nicht gegen Diebstahl versichert.
Für ausländische Touristen oder Besucher, die ihr Velo in die Schweiz bringen, ist kein Vignettenkauf vorgeschrieben.
Andererseits gelten die Velo-Vignetten für Schweizer in ganz Europa.
Verursacht ein Ausländer mit seinem Velo in der Schweiz einen Unfall oder einen Schaden und kann er den Schaden nicht bezahlen, kommt der Nationale Garantiefonds für die Deckung auf.
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