Alpen-Schwerverkehr vor harter Herausforderung
Im vergangenen Jahr haben rund 1,25 Millionen Lastwagen die Schweizer Alpen durchquert. – doppelt so viele, wie sich die Regierung zum Ziel gesetzt hat. swissinfo.ch hat sich zu dem Thema mit Experten aller Seiten unterhalten.
Die Zahl der Lastwagen auf Schweizer Alpenstrassen ist 2010 laut Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation (UVEK) um 77’000 auf 1,25 Millionen gestiegen. Das entspricht dem Niveau vor der Finanzkrise.
Diese Zahl liege weit über dem für 2017 – nach der Eröffnung des Gotthard-Basistunnels – anvisierten Ziel von 650’000 Lastwagen, hiess es beim UVEK. Ebenso über dem Interimsziel von einer Million bis Ende 2011. Dennoch wurden 2010 mehr Güter auf der Schiene transportiert, nämlich 62%, knapp mehr als 2009 (60,9%).
«Diese Zahlen haben wir erwartet», sagt Thomas Bolli, Sprecher der Alpeninitiative, gegenüber swissinfo.ch. «Wenn die Wirtschaft aufwärts geht, wächst auch der Lastwagenverkehr.» Aber der sei zu gross. «Mit der gegenwärtigen Politik wird die Schweiz ihr Ziel nicht erreichen.»
Die Nichtregierungs-Organisation hatte 1994 eine eidgenössische Abstimmung gewonnen. Die Alpeninitiative verlangte eine Verlagerung des Güterverkehrs von der Strasse auf die Schiene. Aber die Umsetzung der Politik, die Zahl der Lastwagen, die durch die Schweiz fahren, innerhalb von zehn Jahren zu halbieren, hatte keinen Erfolg.
«Die Regierung tut zu wenig, um den Güterverkehr von der Strasse auf die Schiene zu verlagern. Wir fordern jedes Jahr eine Alpentransitbörse, damit die in Verfassung und Gesetz verankerten Ziele erreicht werden können», so Bolli.
Bei der Alpentransitbörse wird die Gesamtzahl der jährlich zugelassenen Fahrten in Form von Alpentransitrechten festgelegt. Für ein Alpentransitrecht müssen mehrere Alpentransiteinheiten entrichtet werden. Diese werden versteigert und können danach von den Transporteuren im freien Handel gekauft oder verkauft werden. Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis. Voraussetzung ist ein attraktiveres Angebot im alpenquerenden Schienengüterverkehr.
Schwerverkehrsabgabe
«Die Schweizer Regierung unterstützt diese Idee», sagt Annetta Bundi vom UVEK gegenüber swissinfo.ch. «Mit dem Frachtverlagerungsgesetz hat das Parlament die Basis geschaffen, auf der die Regierung verfassungsmässige Massnahmen für eine international akzeptierte Alpentransitbörse in Kraft setzen kann.»
Gemäss Gesetz kann die Regierung dem Parlament ausserordentliche Massnahmen unterbreiten, falls das Ziel nicht erreicht wird. Eine davon sei die leistungsabhängige Schwerverkehrsabgabe (LSVA), die seit dem 1. Januar 2001 in der Schweiz erhoben wird, so Bundi.
Die LSVA gilt für schwere Güterfahrzeuge mit einem Gesamtgewicht von mehr als 3,5 Tonnen und bemisst sich nach drei Kriterien: der Zahl der auf dem Gebiet der Schweiz zurückgelegten Kilometer, dem zulässigen Gesamtgewicht des Fahrzeugs und den Emissionen des Fahrzeugs.
«Ohne diese oder andere Massnahmen wie die Unterstützung des kombinierten Verkehrs (Benutzung von zwei oder mehreren Gütertransportmitteln) würden wir einige 100’000 Lastwagen mehr auf den Alpenstrassen haben.»
Zusätzlich habe die LSVA die Kapazitätseffizienz erhöht, die Zahl der Lastwagen-Leerfahrten durch die Schweiz reduziert und zu mehr umweltfreundlicheren Fahrzeugen geführt, sagt Bundi. Obwohl die Zahl der Lastwagen gestiegen sei, «wurde die Luftverschmutzung nicht höher», sagt Bundi.
«Illusion»
André Kirchhofer vom Schweizerischen Nutzfahrzeugverband (Astag) überzeugt die LSVA dagegen nicht. «Das Ziel von 650’000 Lastwagen hat sich schon seit längerer Zeit als Illusion erwiesen», sagt er gegenüber swissinfo.ch. «Es ist nicht kompatibel mit den Bedürfnissen von Wirtschaft und Konsumenten.»
Kirchhofer möchte einen «Paradigmenwechsel», weg von «einseitigen Massnahmen» wie LSVA und Alpentransitbörse, hin zu Marktreformen der Eisenbahnen.
«In dieser Hinsicht ist unser Verband klar gegen die Einführung einer Alpentransitbörse. Trotz des Wortes ‹Börse›, das marktwirtschaftliche Kriterien andeutet, ist sie zur Zeit ein staatlich verordnetes Kontingent. Oder in anderen Worten eine Planwirtschaft, die im Widerspruch zur freien Wahl der Transportmittel steht, wie dies in der Verfassung garantiert ist», so der Astag-Vertreter. Eine solche «Börse» würde der Schweizer Wirtschaft «sehr schaden».
Thomas Bolli, Sprecher der Alpeninitiative, seinerseits gibt sich pessimistisch angesichts des mangelnden Fortschritts in den letzten Jahren. Er betont indessen, dass Lösungen vorhanden wären. «Der politische Wille wird entscheiden, ob wir das Ziel erreichen oder nicht.»
Die Nichtregierungs-Organisation (NGO) Alpeninitiative wurde 1987 gegründet und hat nach eigenen Angaben 50’000 Mitglieder und Sympathisanten. Ihr Ziel ist der Schutz der Alpen vor dem wachsenden Strassenverkehr.
Die NGO brachte 1994 ein Volksbegehren zum Schutz der Alpen zur nationalen Abstimmung, das angenommen wurde.
Darauf beschlossen Parlament und Regierung die Einführung einer Schwerverkehrsabgabe, die Erweiterung des Lastwagengewichts von 28 auf 40 Tonnen sowie die Subvention von Tickets für Lastwagen, die den Schienentransport wählen.
Die Alpeninitiative hat ferner dazu beigetragen, dass 2004 ein Vorschlag für eine zweite Gotthard-Strassentunnelröhre abgelehnt wurde.
Die Schweizer Transportpolitik fordert, dass die meisten Gütertransporte von der Strasse auf die Schiene umgelagert werden sollen.
Die Zahl der alpenquerenden Lastwagenfahrten in der Schweiz soll bis 2018-2019 auf jährlich 650’000 gesenkt werden (bis 2011 auf eine Million).
2009 beschloss das Parlament, das ursprüngliche Zieljahr 2009 um zehn Jahre zu verschieben.
Derzeit überqueren jährlich rund 1,25 Millionen Lastwagen die Schweizer Alpen.
Der Gotthard-Tunnel ist die wichtigste Nord-Süd-Verkehrsachse durch die Schweiz. Es gibt noch zwei weitere Routen: Die Lötschberg-Simplon-Tunnels des Landes sowie der San Bernardino-Tunnel.
(Übertragung aus dem Englischen: Jean-Michel Berthoud)
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