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Beth Van Schaack: «Der Ukrainekrieg schreit nach Gerechtigkeit»

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Corinna Staffe

Das US-Aussenministerium glaubt, dass es einen Mann gibt, der den Krieg in der Ukraine beenden kann. Spoiler: Es ist nicht der ukrainische Präsident Wolodimir Selenski. Beth Van Schaack, die amerikanische Botschafterin für globale Strafjustiz, erläutert die Herausforderungen bei der Untersuchung von Kriegsverbrechen und die Schwierigkeiten, die derzeit amtierenden Führungsfiguren vor Gericht zu bringen.

Beth Van Schaack ist eine amerikanische Anwältin und Wissenschaftlerin. US-Präsident Joe Biden ernannte sie im Jahr 2021 zur «Ambassador-at-Large for Global Criminal Justice» im US-Aussenministerium.

Beth Van Schaack
US-Botschafterin Beth Van Schaack. www.state.gov

swissinfo.ch: Die vom UNO-Menschenrechtsrat eingesetzte unabhängige internationale Untersuchungskommission für die Ukraine kam zum Schluss, dass in der Ukraine Kriegsverbrechen begangen worden sind. Wie soll es nun weitergehen?

Beth Van Schaack: Die Untersuchungskommission hat kürzlich ihren ersten Bericht veröffentlicht. Darin klagt sie die Kriegsverbrechen Russlands scharf an. Die Kommission konnte eine ganze Reihe solcher Verbrechen auflisten.

Darunter befinden sich der Einsatz von Sprengstoff in bewohnten Gebieten, Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser, die Gefährdung von Zivilpersonen sowie eine ganze Liste von Verletzungen der persönlichen Integrität: zum Beispiel Hinrichtungen im Schnellverfahren, rechtswidrige Inhaftierung, Folter und Verwundung von Gefangenen, Vergewaltigung und andere Formen sexueller Gewalt.

Und natürlich all die Deportationen und Russlands berüchtigter «Filterungs-Prozess»Externer Link [zur Einschätzung der wahrgenommenen Bedrohung von inhaftierten Ukrainerinnen und Ukrainern, bevor sie entweder inhaftiert oder zwangsweise nach Russland deportiert werden; Angaben des US-State Department].

Hochschwangere, verletzte Frau auf zerbombter Treppe
Am 9. März 2022 bombardierten russische Streitkräfte ein Kinder- und Entbindungskrankenhaus in Mariupol. 17 Menschen, darunter auch Frauen in den Wehen, wurden bei der Bombardierung verletzt. «Frauen, Neugeborene und medizinisches Personal wurden getötet», sagte die Neurologin Oleksandra Shcherbet. Marianna Vyshegirskaya (im Bild) brachte am folgenden Tag eine Tochter zur Welt. Copyright 2022 The Associated Press. All Rights Reserved

Normalerweise können alle Informationen mit Strafverfolgungsbehörden in der ganzen Welt ausgetauscht werden. Dazu gehören Staatsanwältinnen und Staatsanwälte auf nationaler Ebene, zum Beispiel in der Ukraine.

Aber auch anderswo in Europa [gibt es Staatsanwältinnen und Staatsanwälte], von denen viele ihre eigenen Ermittlungen zur Lage in der Ukraine eingeleitet haben. Sie wollen mögliche Kriegsverbrechen vor Gericht bringen, falls russische Angeklagte in ihren Zuständigkeitsbereich fallen sollten.

Alle diese Informationen können an den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) weitergegeben werden, der eine Untersuchung der Situation in der Ukraine eingeleitet hat. Die Untersuchungskommission ist also ein Teil einer grösseren Anstrengung auf der ganzen Welt.

Was wird jetzt geschehen, da der Krieg noch andauert?

Es ist schon bemerkenswert, dass die Ukraine ihre Abteilung für Kriegsverbrechen voll einsatzfähig halten konnte. Sobald es im Land zu Zwischenfällen kommt, es mögliche Kriegsverbrechen gibt, ist sie in der Lage, ein Team aus nationalen und internationalen Fachleuten vor Ort zu schicken. Das beginnt dann sofort mit der Beweisaufnahme.

Auch die Ukraine hat bereits einige Anklagen erhoben und Prozesse vor ihren eigenen Gerichten geführt. Der IStGH hat aktiv eigene Ermittlungen aufgenommen.

Prozess gegen einen Kriegsverbrecher
Der erste Prozess gegen Kriegsverbrecher in der Ukraine während der Invasion: Der russische Soldat Vadim Shishimarin wurde angeklagt, einen unbewaffneten 62-jährigen Zivilisten getötet zu haben. Er bekannte sich schuldig. Das Gericht verurteilte ihn am 23. Mai 2022 zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe. Keystone / Oleg Petrasyuk

Wie können Staatsanwältinnen und Staatsanwälte Personen hinter Gitter bringen, die an Kriegsverbrechen beteiligt waren?

Die eigentliche Herausforderung besteht jetzt darin, die Beschuldigten in Gewahrsam zu nehmen. Die Ukraine hat zwar einige Kriegsgefangene in Haft genommen, aber viele Täter sind in Russland.

Ohne eine internationale Polizeitruppe besteht die einzige Möglichkeit, diese Personen in Gewahrsam zu bekommen, darin, dass sie Russland freiwillig verlassen. Wir werden wohl noch einige Zeit warten müssen, bis diese Täter die Sicherheit Moskaus verlassen werden.

Die Untersuchungskommission hat auch mindestens zwei Fälle von Misshandlungen russischer Soldaten durch die ukrainischen Streitkräfte festgestellt. Achtet die US-Regierung auch auf solche Fälle?

Es ist tatsächlich sehr wichtig zu betonen, dass das Kriegsrecht und das Verbot von Kriegsverbrechen gleichermassen für den Angreifer- wie für den Opferstaat gelten. Bei diesem Konflikt aber hört diese Gleichwertigkeit auf: Die Daten und Informationen über russische Kriegsverbrechen sind im Vergleich zu den Vorwürfen gegen die ukrainischen Streitkräfte absolut überproportional.

Auch die Reaktion der beiden Staaten ist sehr unterschiedlich. Russland reagiert auf diese Behauptungen und Anschuldigungen mit Dementis und Lügen. Während die Ukraine eingeräumt hat, dass ihre Streitkräfte einige Übergriffe begangen haben, und versprochen hat, diese zu untersuchen.

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Wenn Russland sich nicht mehr um das Völkerrecht zu scheren scheint und ein Frieden nicht sofort erreicht werden kann, welche Hebel und Schritte in Richtung Waffenstillstand gibt es dann?

Dies ist offensichtlich ein grosses Problem der Diplomatie und des politischen Willens. Und es gibt ganz klar eine Person, welche die Feindseligkeiten beenden könnte, und diese Person ist Präsident Putin.

Was hat Sie bei all dem, was Sie seit Beginn des Kriegs in der Ukraine gesehen haben, am meisten schockiert?

Man würde in jedem Krieg ein hohes Mass an Gewalt und Zerstörung erwarten, selbst wenn er unter strikter Einhaltung des Völkerrechts geführt würde. Aber was wir in den Gebieten sahen, aus denen sich die russischen Truppen zurückgezogen haben, war Gewalt ganz anderer Art.

Es handelte sich um persönliche, grausame Gewalt – wir sahen Leichen von Menschen, die wie bei einer Hinrichtung getötet wurden, mit auf dem Rücken gefesselten Händen. Es gab glaubwürdige Berichte über sexuelle Gewalt gegen Frauen und Mädchen, Männer und Jungen.

Es handelt sich also nicht nur um die typischen Zerstörungen, die man sie in einem Krieg erwarten würde, sondern um wirklich gewalttätige individuelle Übergriffe. Und es ist extrem schwer, so etwas zu sehen und zu hören.

Männliche Leiche mit auf dem Rücken gefesselten Händen
Ein Mann wurde mit auf dem Rücken gefesselten Händen getötet. Seine Leiche lag am 3. April 2022 in Butscha auf dem Trottoir. Copyright 2022 The Associated Press. All Rights Reserved.

Könnte Putin eines Tages wegen Kriegsverbrechen in der Ukraine angeklagt werden?

Solange er das Staatsoberhaupt Russlands ist, geniesst er in dieser Eigenschaft Immunität, sollte er von Gerichten in einem anderen Staat belangt werden. Die Immunität eines Staatsoberhaupts besteht aber nur so lange, wie es an der Macht ist.

Vor einem internationalen Gericht aber gibt es keine Immunität eines Staatsoberhaupts. Wenn er also Staatschef bleibt und der IStGH die Befehlskette anklagt, müsste dieser entscheiden, ob er genügend Beweise gegen ihn hat.

Können Länder mit neutralem Status wie die Schweiz Kriegsverbrechen verfolgen?

Die Schweiz hat Sanktionen gegen Russland verhängt und ukrainische Flüchtlinge aufgenommen – all dies sind willkommene Entwicklungen. Das ist ein neuer Nürnberger Moment, so wie sich die internationale Gemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg einig war, dass die Nazi-Täter zur Verantwortung gezogen werden müssen.

Jetzt ist es auch wichtig, dass wir alle auf die Tatsache reagieren, dass Russland einen massiven Verstoss gegen die UNO-Charta begangen hat. Und dass es gegen internationale Normen verstösst, die uns allen wichtig sind.

Noch nie war die Welt so vereint, wenn es darum ging, in einer bestimmten Situation für Gerechtigkeit zu sorgen, die so dringend nach Gerechtigkeit schreit.

Nürnberger Prozesse
Die grössten Nazi-Verantwortlichen (in den beiden hinteren Sitzreihen), die wegen Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs angeklagt wurden, sitzen im November 1945, zu Beginn der Nürnberger Prozesse, vor dem Internationalen Militärgerichtshof im dortigen Justizpalast. Keystone / Str

Die USA waren in den Konflikt in Syrien involviert. Ein US-SenatorExterner Link, einige europäische Staats- und RegierungschefsExterner Link sowie die ehemalige Chefanklägerin der internationalen UNO-Tribunale, Carla Del Ponte, forderten, den syrischen Präsidenten Bashar al-Assad vor Gericht zu stellen. Assad blieb Präsident, obwohl die UNO festhielt, dass die syrische Regierung Kriegsverbrechen begangen hat. Was halten Sie von diesen Ähnlichkeiten mit der Situation in der Ukraine?

Die Verbrechen und Missbräuche, die wir heute in der Ukraine sehen, folgen demselben Muster, das wir überall dort gesehen haben, wo Russland seine Streitkräfte unter Präsident Putin eingesetzt hat. Und dazu gehört natürlich Syrien.

Aber wir haben auch Georgien und sogar lange davor Tschetschenien und Grosny sowie die Art der Belagerung, der die Zivilbevölkerung ausgesetzt war. Es gibt definitiv ein Muster.

Und bei diesen früheren Operationen gab es keine Rechenschaftspflicht. Deshalb ist es äusserst wichtig, dass wir uns weiterhin dafür einsetzen, dass die Art von Missbrauch, die wir in diesem Krieg erleben, zur Rechenschaft gezogen wird.

Russische Beamte sagen: «Wenn die USA einen Krieg beginnen können, warum kann es dann Russland nicht auch tun?» Was antworten Sie darauf?

Ich denke, die Welt lässt sich von diesen Behauptungen nicht täuschen und begreift, dass Russland hier der Haupttäter und Präsident Putin der Architekt dieses schrecklichen Kriegs ist.

Wie würden Sie dann den Menschen in Russland erklären, dass all die Sanktionen und anderen Schritte, welche die USA unternommen haben, nicht gegen das russische Volk gerichtet sind?

Das ist eine schwierige Frage, denn Russland hat jetzt alle unabhängigen Medien zum Schweigen gebracht. Sie haben eine Reihe von zivilgesellschaftlichen Organisationen aus dem Land geworfen, die als unabhängige Stimmen in der Lage gewesen wären, direkt mit dem russischen Volk zu sprechen.

Das ist also die Herausforderung: entsprechende Technologie einzusetzen, um sicherzustellen, dass die Menschen korrekte Informationen erhalten.

Glauben Sie in dieser Situation, dass einige der russischen Propagandisten eines Tages auch strafrechtlich verfolgt und verurteilt werden könnten?

Wenn Propaganda den Grad der Aufwiegelung erreicht, indem sie aktiv zur Gewalt gegen Menschen aufruft, dann kann sie nach internationalem und nationalem Recht strafrechtlich verfolgt werden.

Personen, die diese Art von Propaganda betreiben, sollten sich dessen bewusst sein. Auch wenn sie selber keine Waffe in die Hand nehmen.

Die weiteren Artikel unserer Serie finden Sie in unserer Übersicht:

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Editiert von Balz Rigendinger. Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

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Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub

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