Deiss: UNO ist die «moralische Macht» der Welt
Die Welt brauche die UNO, sagt Joseph Deiss, Präsident der UNO-Generalversammlung. Keine andere Organisation habe im gleichen Mass die Eigenschaften Universalität, Legitimität und Demokratie. Mit swissinfo.ch sprach Deiss über seine Erfahrungen bei der UNO.
Während fast einem Jahr hat der frühere Schweizer Aussenminister Joseph Deiss als Präsident der Generalversammlung neben UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon das Gesicht der UNO geprägt.
Die Aufnahme Südsudans sowie die Suspendierung Libyens aus dem Rat habe ihn besonders berührt, sagt Deiss im Gespräch mit swissinfo.ch kurz vor Ablauf seines Mandats.
swissinfo.ch: Sie haben Ihr Präsidialamt mit Elan und viel Enthusiasmus für die UNO angetreten. Hat sich Ihre Einstellung geändert?
Joseph Deiss: Meine Begeisterung hat noch zugenommen. Ich bin beeindruckt von der Vielfalt, der Grösse, der Leistung – von der Tatsache, dass hier 193 Staaten ständig vertreten sind und für die gesamte Menschheit einstehen. Es ist der einzige Ort weltweit, wo so etwas passiert.
Natürlich gibt es Mängel und Handlungsbedarf. Wir brauchen alle Kräfte, die mithelfen, die UNO als moralische Macht noch besser zu machen.
Wir können nur mit Konsenslösungen vorankommen. Und solche sind meist nicht Maximallösungen und auch deshalb oft der Kritik ausgesetzt.
swissinfo.ch: Was waren Erfolge der GV unter Ihrer Präsidentschaft?
J.D.: Ich glaube, wir haben Fortschritte erzielt. Sei es im Bereich Entwicklung und Reduktion der Armut mit dem Gipfel, an dem die Millenniumsziele bekräftigt wurden, oder bei der «Green Economy», der Nachhaltigkeit, die nun endgültig als Thema akzeptiert ist.
Auch bei der globalen Gouvernanz, wo es darum geht, wie man in einer Organisation souveräner Staaten angesichts der globalisierten Herausforderungen gemeinsame Entscheide fällen kann, gab es Fortschritte. So haben wir eine Brücke geschlagen zwischen der G20 und der Generalversammlung.
Wie weit ich in einzelnen Bereichen «verantwortlich» gewesen sein mag für Erfolge, ist eine Ermessensfrage. Einer der sichtbaren Erfolge ist die Aufnahme Südsudans als 193. Mitgliedstaat, der die Generalversammlung im Juli zustimmte.
Daneben gibt es viele andere Beispiele. Ich denke etwa an Côte d’Ivoire oder die Überprüfung des Menschenrechtsrates. Die GV hat gerade auch über solche Geschäfte starke Signale in Bezug auf die Werte gesendet: Wir stehen hinter den Menschenrechten und den Grundsätzen der UNO.
Dazu gehört die Suspendierung Libyens aus dem Menschenrechts-Rat. Die GV hat sich damit nicht nur klar für den Schutz der Zivilbevölkerung ausgesprochen, was ja die Aufgabe des Sicherheitsrats ist. Sie hat unterstrichen, wo die Grenze in Bezug auf die Achtung der Menschenrechte liegt, und dass diese überschritten worden war.
swissinfo.ch: Kaum Fortschritte gab es bei der Reform des Sicherheitsrats.
J.D.: Ja, das ist ein sehr schwieriges Thema. Die GV ist dafür zuständig – und wenn es ihr nicht gelingt, die Reform zum Abschluss zu bringen, wird die Glaubwürdigkeit der UNO zu einem Problem.
Es ist uns zumindest gelungen, eine offenere Diskussion zu lancieren, doch die Aufnahme offizieller Verhandlungen lässt auf sich warten.
swissinfo.ch: Was hat Sie während Ihrer Amtszeit besonders berührt?
J.D.: Sicher die Aufnahme Südsudans in die UNO. Mir war auch die Aufnahme der Schweiz, bei der ich mit dabei war, wieder sehr präsent.
Nach dem Entscheid haben Südsudans Vizepräsident, der sein Land hier vertrat, GS Ban Ki-moon und ich uns zurückgezogen. Und der südsudanesische Politiker war zu Tränen gerührt. Es war für uns drei ein Moment, den wir nie vergessen werden.
Ein weiterer emotionaler Moment war, als ich Ban Ki-moon nach seiner Bestätigung für eine zweite Amtszeit vereidigen konnte. Vor uns lag das Original der 1946 in San Francisco unterzeichneten Charta. Die befindet sich normalerweise in Washington und wurde unter strengsten Sicherheitsmassnahmen nach New York gebracht.
swissinfo.ch: Als GV-Präsident nehmen Sie grundsätzlich eine neutrale Position ein. Gab es Momente, in denen Sie davon abwichen?
J.D.: Wann immer es um die Werte der UNO ging, habe ich mich in Sitzungen, Gesprächen etc. stark gemacht dafür, dass wir noch mutiger dafür eintreten.
So habe ich in Genf vor dem Menschenrechtsrat am Tag vor der Suspendierung Libyens aus dem Rat in New York bei meinem Votum gesagt: «Es ist Zeit, dass wir perversen Regimes klar sagen, dass ihre Zeit vorbei ist, dass sie abzutreten und Rechenschaft abzulegen haben.» Und nach dem Suspendierungs-Entscheid sagte ich: «Heute bin ich stolz, Ihr Präsident zu sein.» Es hat niemand reklamiert.
swissinfo.ch: Wie weit haben Ihnen Ihre Schweizer Herkunft und Erfahrungen bei der Ausübung Ihres Amtes geholfen?
J.D.: Sicher beim Führen von Verhandlungen, wie zum Beispiel die sehr schwierigen Verhandlungen beim Budget für die Friedenserhaltenden Operationen. Der Kampf zwischen den Mitgliedsstaaten hat bis vier Uhr morgens in der letzten Nacht gedauert.
Oft hat man mir gesagt, ich müsste dies oder das jetzt sagen, ich könne das am besten, da ich als Schweizer neutral sei.
Also entgegen dem, was die Gegner unseres Beitritts immer gesagt haben, dass wir an der UNO nicht als neutral angesehen würden: Hier wissen alle, dass die Schweiz neutral ist – und das ist sicher ein Vorteil.
Keine der düsteren Voraussagen der Gegnerschaft unseres UNO-Beitritts haben sich erfüllt: Wir sind immer noch neutral, souverän und unabhängig.
Und wir – die Schweiz – gelten als berechenbar, pragmatisch und lösungsorientiert. Man weiss, wenn wir etwas versprechen, halten wir uns daran. Das gilt für Verträge genauso wie für Sitzungen.
Was mich beeindruckt, ist, dass man die Schweiz in vieler Hinsicht immer wieder als Modell betrachtet. Wenn ich in der Schweiz einen Vortrag gehalten habe, sagte ich oft, «im Ausland glauben die, wir leben im Paradies – und die einzigen, die es nicht wissen, sind die Schweizer, wenn sie immer wieder murren».
swissinfo.ch: Wurden Sie auf Themen wie die Minarett- oder die Ausschaffungs-Initiative angesprochen?
J.D.: Diese Initiativen wurden wahrgenommen, aber man hat das mir gegenüber eigentlich nicht oft erwähnt. Ich glaube, unser Image hat deswegen nicht enorm Schaden erlitten.
Ich würde sagen, das Problem ist umgekehrt: Wie gesagt, man sieht uns als Beispiel – und viele Schweizer sind der Meinung, wir seien exemplarisch, einzigartig, ein Sonderfall eben. Wir selber müssen uns die Frage stellen: Leben wir diesem hohen Standard nach?
Dies ist meine Botschaft an meine Mitbürgerinnen und Mitbürger: Wenn wir gewisse Grundrechte wie die Religionsfreiheit für andere in Frage stellen, bringen wir sie auch für uns selber ins Gespräch. Und auf das müssen wir achten.
Ich bin überzeugt, dass wir diese Werte wirklich wollen. Leben wir diesen Werten nach, verdienen wir das gute Image. Wir müssen uns aber jeden Tag wieder anstrengen. Wir waren ja nicht die ersten, die den Frauen das Stimmrecht gegeben hatten…
swissinfo.ch: Wie sehen Ihre Zukunftspläne aus?
J.D.: Ich werde mich nicht langweilen, fühle mich munter und motiviert, noch einiges zu unternehmen – und habe nicht im Sinn, in die Politik zurückzukehren.
Ich habe eine dritte Phase in meinem Leben eingeschlagen, bin mein eigener Chef. Wichtig ist mir, dass ich wieder mehr Zeit für meine Familie haben werde. Dieses Jahr war natürlich sehr angespannt. Unsere Beziehungen fanden vor allem via Skype und so statt.
swissinfo.ch: Wer Sie als GV-Präsident beobachtete, gewann den Eindruck eines Mannes, der sich in seinem Element fühlt. Werden Sie die UNO und New York vermissen? Oder freuen Sie sich einfach auf Freiburg?
J.D.: Es stimmt, ich fühlte mich voll in meinem Element. Es war ein wunderbares, ereignisvolles Jahr.
Auch mit meinem Team habe ich eine enorme Genugtuung erlebt. Zu den rund 20 Leuten aus etwa 15 Nationen gehörten neben solchen, die ich schon gekannt hatte, viele neue, junge Leute aus der ganzen Welt.
Ich habe es hier wirklich genossen und werde es vermissen. Und dadurch kompensieren, dass ich näher bei den Meinen sein und alles etwas gemütlicher angehen werde.
Trotz der seriösen Angelegenheit, die das Amt bedeutet, darf ich sagen: Ich hatte den Plausch.
Die wichtigsten Konsequenzen des Arabischen Frühlings sind aus der Sicht von Joseph Deiss jene für die betroffenen Länder und deren Bevölkerungen. Sowie die Bedeutung für Demokratie als solche. Aber auch die UNO sei sichtbarer geworden, habe zeigen können, was sie könne. Gleichzeitig seien auch Grenzen aufgezeigt worden.
Von grosser Bedeutung war aus seiner Sicht, dass das Konzept der «Schutzpflicht» (Responsibility to Protect), die es seit 2005 gibt, im Fall von Libyen vom Sicherheitsrat in der Resolution 1973 zum ersten Mal ausdrücklich als Begründung für das Vorgehen verwendet wurde.
Es war um eine Abwägung zwischen zwei Rechtsgütern gegangen: Souveränität eines Mitgliedstaats und Wahrung der Menschenrechte. Die Schutzpflicht besagt, wenn eine Regierung ihre Bevölkerung nicht mehr schützen kann oder will, haben die anderen Staaten nicht nur ein Recht, einzugreifen, sondern eine moralische Pflicht.
Dass die erste Anwendung des neuen Grundsatzes Diskussionen und Kritik auslösten, sei verständlich, man befinde sich auf Neuland und müsse erste Erfahrungen sammeln.
Mit der Suspendierung Libyens aus dem Menschenrechtsrat, mit der Resolution 1973 des Sicherheitsrates, aber auch mit dem Entscheid des Sicherheitsrates, dass der Internationale Strafgerichtshof sich mit dem Fall Gaddafi befassen solle, seien Werte bekräftig worden, für welche die UNO stehe.
Und Syrien? Hier sei die Reaktion, auch aus Sicht vieler an der UNO, etwas spät und zögerlich gekommen, indem erst Anfang August eine Präsidialerklärung des Sicherheitsrats genehmigt wurde, welche die Vorkommnisse in Syrien verurteilt.
Der Mann und die Frau auf der Strasse erwarteten aber auch im Fall Syrien, dass die UNO ihre Werte verteidige. Es sei wichtig, diese Frage aufzuwerfen auch weil eine der Kritiken, der sich die UNO stellen müsse, sei, dass nicht überall mit gleichen Ellen gemessen werde.
Die Wahl zum Präsidenten der UNO-Generalversammlung gab der politischen Karriere von Joseph Deiss eine internationale Dimension.
Diese Karriere begann 1981 im Grossen Rat des Kantons Freiburg. Von 1982 bis 1996 war er Gemeindepräsident von Barberèche.
1991 wurde er in den Nationalrat gewählt, 1999 folgte die Wahl in den Bundesrat, wo er das Aussenministerium übernahm. In dieser Funktion führte er die Abstimmungskampagne für den Beitritt der Schweiz zur UNO.
2003 wechselte er ins Wirtschaftsministerium, 2006 trat er aus dem Bundesrat zurück.
Joseph Deiss wurde 1946 geboren. Er ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern.
Von 1984 bis zu seiner Wahl in den Bundesrat 1999 war Deiss Wirtschaftsprofessor an der Universität Freiburg. Von 1993 bis 1996 amtete er zudem als Preisüberwacher der Schweiz.
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