Den Hilfsorganisationen fehlen Mittel für den Jemen
Infolge des anhaltenden Bürgerkriegs in Jemen zählt das Land zu den schlimmsten Krisenregionen weltweit. Doch die Hilfsgelder der internationalen Gemeinschaft fliessen immer spärlicher. Während die Hoffnung auf Frieden aufkeimt, warnen humanitäre Organisationen vor den Folgen dieser Finanzierungslücke.
«Unsere humanitären Helfenden werden entscheiden müssen, welche Lager sie mit Lebensmittel versorgen und welche nicht, welche Familien eine Unterkunft bekommen und welche auf die Strasse gesetzt werden», sagt Jan Egeland, Generalsekretär der Norwegische Flüchtlingshilfe (NRC), einer NGO mit Sitz in Oslo.
Die fehlenden finanziellen Mittel für die Arbeit der NRC im Jemen zwingt das Team vor Ort zu schwierigen Entscheiden. «Wir haben noch einen Teil der Gelder, die wir im letzten Jahr erhalten haben, aber die Pipeline ist fast leer», sagt Egeland.
Die humanitäre Krise im Jemen zählt zu den schlimmsten der Welt. Die Vereinten Nationen (UNO) schätzen, dass 21,6 Millionen Menschen im Jemen – mehr als zwei Drittel der Bevölkerung – humanitäre Hilfe benötigen, um ihre Grundbedürfnisse nach Nahrung, medizinischer Versorgung und Bildung zu decken.
Das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen (WFP), das im Jemen einen seiner grössten Einsätze durchführt, schätzt, dass 17 Millionen Menschen von einer unsicheren Ernährungslage betroffen sind, sechs Millionen davon am Rand einer Hungersnot.
Bis vor kurzem konnten die Hilfsorganisationen genügend Mittel aufbringen, um den meisten bedürftigen Jemenit:innen zu helfen. Zwischen 2017 und 2019 wurden die von der UNO koordinierten Pläne durchschnittlich zu 81 Prozent finanziertExterner Link, obwohl der Bedarf in diesem Zeitraum von 2,3 Milliarden US-Dollar auf 4,2 Milliarden gestiegen ist. In den letzten drei Jahren ist die Finanzierungsrate jedoch auf durchschnittlich 58 Prozent gesunken.
Im Februar hatten die Vereinten Nationen auf einer Geberkonferenz in Genf gehofft, für 2023 4,3 Milliarden US-Dollar für Hilfsmassnahmen im Jemen aufbringen zu können. Die internationalen Geber haben jedoch nur 1,2 Milliarden US-Dollar zugesagtExterner Link, was für das Jahr 2023 nicht ausreicht.
Hoffnung auf Frieden
Die fehlenden Mittel kommen für Jemen zu einem schlechten Zeitpunkt. Seit 2014 befindet sich das Land in einem gewalttätigen Bürgerkrieg zwischen den mit dem Iran verbundenen Huthi-Rebellen und der international anerkannten Regierung, die von einer von Saudi-Arabien geführten Koalition unterstützt wird. Nach Schätzungen der UNO sind durch den Krieg im Jemen mehr als 377’000 Menschen direkt oder indirekt getötet worden und etwa 4,5 Millionen Menschen vertrieben.
Die laufenden Gespräche zwischen den Huthis und den saudischen Vertretern, die von Oman moderiert werden, haben jedoch Hoffnungen auf ein Ende des Konflikts geweckt. Berichten zufolge verhandeln die Delegationen über einen Waffenstillstand.
Am Sonntag bezeichnete der UNO-Sonderbeauftragte für den Jemen, Hans Grundberg, die derzeitigen Bemühungen als «die grössten Fortschritte, die der Jemen je auf dem Weg zu einem dauerhaften Frieden gemacht hat».
Die Verhandlungen gewannen an Schwung, nachdem Saudi-Arabien und der Iran, die sich im Jemen einen Stellvertreterkrieg liefern, im März im Rahmen eines von China vermittelten Abkommens die Wiederaufnahme ihrer diplomatischen Beziehungen vereinbart hatten.
Später im selben Monat einigten sich die Kriegsparteien in Genf unter Aufsicht der UNO und des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) auf die Freilassung von 887 Gefangenen beider Seiten.
Ob diese Bemühungen den Weg für weitergehende Verhandlungen mit allen Parteien über eine politische Lösung des Konflikts ebnen, bleibt offen. Es handelt sich jedoch um so genannte vertrauensbildende Massnahmen.
«Der gute Wille der Konfliktparteien in wichtigen humanitären Fragen trägt dazu bei, ein Umfeld zu schaffen, das Gespräche über schwierigere Fragen ermöglicht», sagt Fabrizio Carboni, Regionaldirektor für den Nahen und Mittleren Osten beim IKRK.
Egeland von der NRC ist der Ansicht, dass es jetzt nicht an der Zeit sei, die Unterstützung für die jemenitische Bevölkerung einzustellen.
Abhängigkeit von Hilfe vermeiden
«Es ist eine einmalige Chance, aus dieser schrecklichen Abhängigkeit von der Hilfe und dem grenzenlosen Elend, das der Krieg verursacht hat, herauszukommen. Denn es gibt nicht nur die Möglichkeit eines Waffenstillstands, sondern auch einer politischen Lösung», sagt Egeland, der sich über die Folgen eines Versiegens der Mittel Sorgen macht.
«Zwei Dinge könnten passieren. Zum einen könnten wieder Menschen sterben, und zwar massenhaft. Und das andere ist, dass der Krieg wieder aufflammt.»
Auch das IKRK, das im Jemen in Regionen arbeitet, die für andere humanitäre Akteure unzugänglich sind und in denen die Folgen der Kämpfe am stärksten zu spüren sind, ist besorgt über den Rückgang der Mittel. Im Jahr 2022 waren die Aktivitäten der Organisation in diesem Land zum ersten Mal seit 11 Jahren unterfinanziert.
Und in einem schwierigen Umfeld wie dem Jemen, wo Zugang und Sicherheit nach wie vor eine Herausforderung darstellen, können Budgetkürzungen die Handlungsfähigkeit von Hilfsorganisationen untergraben.
«Unsere Akzeptanz in einem solchen Umfeld hängt auch von der Relevanz der von uns erbrachten Leistungen ab. Wenn wir also anfangen, eine Auswahl zu treffen, steht unsere Relevanz auf dem Spiel», sagt Carboni. «Und bei der Auswahl geht es nicht darum, Fett zu verlieren.»
Die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmondbewegung verfüge im Jemen über ein Budget von 181 Millionen Schweizer Franken, das IKRK über 100 Millionen Schweizer Franken. «Gemessen am Bedarf könnten wir das aber sicherlich verdoppeln.»
Mehrere Krisen
Könnte dieser Mangel an Mitteln für den Jemen mit den jüngsten politischen Entwicklungen zusammenhängen?
Carboni vom IKRK glaubt das nicht. Ihm zufolge sind sich die Geber bewusst, dass die derzeitigen Verhandlungen nur ein schwacher Hoffnungsschimmer sind und der Bedarf an humanitärer Hilfe nicht sofort verschwinden wird, wenn die Kämpfe aufhören.
«Ich glaube, dass der Rückgang der Mittel mit einem erschreckenden Trend der letzten Jahre zusammenhängt, nämlich der Zunahme der Krisen», so Carboni.
Langwierige Konflikte, der Klimawandel, die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie, der Krieg in der Ukraine: Viele Faktoren tragen dazu bei, dass sich alte humanitäre Krisen verschärfen und neue entstehen. Sie belasten auch die Budgets der Geberländer.
Solange es keinen Frieden gibt, bleibt die humanitäre Hilfe eine Lebensader. «Humanitäre Hilfe wird niemals die strukturellen Probleme des Jemen lösen. Wir werden die Probleme der Dürre, der Gesundheit und der Ernährungssicherheit im Jemen niemals nachhaltig lösen. Das machen nicht die humanitären Helfer:innen, sondern die Politiker:innen», sagt Carboni.
Editiert von Reto Gysi von Wartburg, Übertragung aus dem Englischen: Melanie Eichenberger
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Übertragung aus dem Englischen: Melanie Eichenberger
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