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Der Run auf direkte Demokratie

6. Mai 2012: Die Landsgemeinde in Glarus als Vorzeigeobjekt der direkten Demokratie für Gast Michael Spindelegger, österreichischer Vizekanzler. Keystone

Die Schweiz erlebt in jüngster Zeit einen regen Polittourismus: Ausländische Politiker, vor allem aus den deutschsprachigen EU-Nachbarländern, zeigen grosses Interesse an der direkten Demokratie. Wird diese zum Schweizer Exportschlager?

Am 11. März 2012 verfolgte eine Delegation aus dem deutschen Bundesland Baden-Württemberg die eidgenössischen Abstimmungen vor Ort.

Am 6. Mai besuchte der österreichische Vizekanzler Michael Spindelegger mit Aussenminister Didier Burkhalter die Landsgemeinde in Glarus.

Im Juni organisierte der Kanton Aargau zusammen mit Baden-Württemberg eine Demokratie-Konferenz in Aarau.

Die eidgenössischen Abstimmungen vom 23. September will der Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Kurt Beck, vor Ort verfolgen und einen Arbeitsbesuch beim Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA) machen.

Über Europa hinaus

«Nicht nur EU-Nachbarländer sind am Schweizer Demokratie-Modell interessiert, sondern auch Länder wie Uruguay», sagt Uwe Serdült, Politologe am ZDA, gegenüber swissinfo.ch. «Eine Delegation des lateinamerikanischen Landes wird uns demnächst im Rahmen einer von Präsenz Schweiz organisierten Reise besuchen.»

Durch Unterschriftensammlungen erwirkte Volksabstimmungen auf nationaler Ebene sind in Westeuropa gemäss einer neuen ZDA-Studie neben der Schweiz, die bis 1920 das einzige Land mit direktdemokratischen Instrumenten war, nur in Liechtenstein, Italien und San Marino möglich.

Dazu kommen die USA, Kanada und Australien, ferner seit den 1990er-Jahren 14 postkommunistische Länder Osteuropas (etwa Lettland, Litauen und Ungarn) und schliesslich in Lateinamerika Uruguay, Kolumbien und Venezuela. «Uruguay wird ja nicht von ungefähr als ‹die Schweiz Lateinamerikas› bezeichnet», sagt Studien-Co-Autor Serdült.

Frust über repräsentative Demokratie

Für Serdült ist eine der Ursachen des Interesses im Ausland für die direkte Demokratie in der Schweiz «ein gewisser Frust über die repräsentativen Demokratien». Viele Bürgerinnen und Bürger fühlten sich durch die gewählten Politiker im Parlament nicht mehr vertreten, sie möchten mehr mitreden, direkt partizipieren.

«Alle Demokratien sind in einer Krise. Demokratie ist ein ewiger Lernprozess, derzeit aber regressiv statt progressiv», sagt der sozialdemokratische Nationalrat Andreas Gross gegenüber swissinfo.ch.

Seit Jahren finde «eine eigentliche Entmachtung der Demokratie» statt. Die existierenden Demokratien würden alle autoritärer, die Macht verlagere sich zunehmend zur Exekutive. Der Nationalstaat verliere immer mehr an Autonomie, ohne dass transnational die Demokratie eingerichtet werde. Die Menschen seien immer mehr davon überzeugt, wählen allein genüge nicht mehr, so der Demokratie-Experte.

Für Serdült spielt auch die EU-Krise eine Rolle. Man schiele im europäischen Ausland mit einer gewissen Bewunderung auf das Nicht-EU-Mitglied Schweiz. «Es gibt in Deutschland kaum eine TV-Polittalkshow, in der nicht auf die Schweiz verwiesen wird, die mit ihrer direkten Demokratie ‹gut fährt›. Man fragt sich, ob man das nicht kopieren könnte.»

Das sieht Gross anders. «Die Schweiz wird nicht bewundert, sie wird vor allem nicht verstanden. Die Schweiz gilt als ein Exot, man kennt das Land sehr schlecht. Man muss zeigen, wie wertvoll die direkte Demokratie ist, dass die Schweiz deren Schnittstelle zu den Menschenrechten und dem Geld aber erst unzureichend ausgestaltet hat.»

Fehlendes Verfassungsgericht

Kritiker der direkten Demokratie weisen auf die Gefahr hin, dass gewisse Volksbegehren wie die Ausschaffungs-Initiative kaum umsetzbar seien, weil sie verfassungsmässig garantierte Grund- oder Menschenrechte verletzen würden. «Das ist keine Gefahr der direkten Demokratie an sich, sondern eine Unzulänglichkeit in Bezug auf die Art, wie sie in der Schweiz eingerichtet worden ist», sagt Andreas Gross.

Seit in den letzten Jahren in der Schweiz «mehr auf den Mann und nicht mehr auf den Ball gespielt wird», zeige sich die Schwäche, dass die direkte Demokratie verfassungsrechtlich nicht geschützt sei «vor der Tyrannei der Mehrheit». Das sei aber nicht die Schuld der direkten Demokratie.

Braucht die Schweiz also eine übergeordnete juristische Instanz, die Initiativen auf ihre Verfassungskonformität kontrolliert – ein Verfassungsgericht? «Ich bin überzeugt, dass es für eine Demokratie ein solches Gericht braucht», sagte der slowenische Verfassungsrichter Ciril Ribicic kürzlich in einem Gespräch mit swissinfo.ch. Auch in Slowenien ergreift das Volk Referenden und lanciert Initiativen.

Demokratie-Experte Gross doppelt nach: «Ich sage schon seit Jahren, dass es ein Verfassungsgericht braucht, die direkte Demokratie verbessert werden muss. Sie hat sich 100 Jahre lang, mit Ausnahmen wie zum Beispiel dem Frauenstimmrecht, nicht weiterentwickelt und verfeinert. Deshalb gibt es in der Schweiz einen ganz grossen Reformbedarf.»

Zivilgesellschaftliche Gruppen am erfolgreichsten

Die ZDA-Studie hat auch die effektive Nutzung direktdemokratischer Instrumente analysiert. Resultat: Zivilgesellschaftliche Gruppierungen – namentlich Umweltverbände, Gewerkschaften, aber auch wirtschaftliche Interessenorganisationen – sind am erfolgreichsten. «Und sie nutzen die direkte Demokratie am häufigsten, auch in der Schweiz», ergänzt Studien Co-Autor Uwe Serdült.

Zu Beginn sei die direkte Demokratie von den Oppositionsparteien als Mittel im Machtkampf verwendet worden. «Das war in der Schweiz auch lange so. Je länger es direkte Demokratie gibt, desto mehr ging sie in die Zivilgesellschaft über.» Dieser Trend sei international zu beobachten.

Keine eins zu eins Übernahme

Die «Demokratie-Touristen» könnten von uns lernen, möchten das Schweizer Modell aber nicht eins zu eins übernehmen, sagt Serdült. «Die Besucher sind alle Berufspolitiker. Sie nehmen die direkte Demokratie auch als Gefahr wahr. Man sagt zwar Ja zu mehr politischer Partizipation des Volkes, aber bitte nicht so verbindlich wie in der Schweiz. Bei uns gilt ein an der Urne getroffener Entscheid. In Deutschland sind es ‹Volksbefragungen›, die nicht bindend sind.»

Die Schweiz unterstützt die Gespräche von syrischen Oppositionellen in Berlin über ein Programm nach der Zeit Assads. Die Frage, ob das «Syrien danach» von der direkten Demokratie der Schweiz profitieren könnte, möchte Uwe Serdült so nicht beantworten. «Wir sind immer sehr vorsichtig, wenn es darum geht, direkte Demokratie oder Föderalismus ‹telquel› zu übernehmen. Demokratisierungsprozesse wie in Syrien dauern über Generationen hinweg.»

Unter dem Begriff direkte Demokratie wird eine Staatsform verstanden, in der die Macht direkt vom Volk ausgeübt wird.

Der Gegenbegriff dazu ist die repräsentative Demokratie, wo das Volk die Macht an von ihm gewählte Repräsentanten abgibt.

Die beiden wichtigsten Instrumente der direkten Demokratie in der Schweiz sind die Volksinitiative und das fakultative Referendum.

Die direkte Demokratie der Schweiz wird teilweise auch als halb-direkt bezeichnet, da das System gleichzeitig die direkte Demokratie wie auch politische Repräsentativ-Institutionen umfasst.

Die Volksinitiative erlaubt den Schweizer Bürgerinnen und Bürgern, eine Änderung in der Bundesverfassung vorzuschlagen. Damit sie zu Stande kommt, müssen innerhalb von 18 Monaten 100’000 gültige Unterschriften bei der Bundeskanzlei eingereicht werden.

Darauf kommt die Vorlage ins Parlament. Dieses kann eine Initiative direkt annehmen, sie ablehnen oder ihr einen Gegenvorschlag entgegenstellen. Zu einer Volksabstimmung kommt es in jedem Fall.

Zur Annahme einer Initiative sind sowohl das Volks- wie auch das Ständemehr (Kantone) nötig.

Das (fakultative) Referendum erlaubt Bürgerinnen und Bürgern, das Volk über ein vom Parlament verabschiedetes Gesetz entscheiden zu lassen. Falls das Referendumskomitee innerhalb von 100 Tagen 50’000 gültige Unterschriften bei der Bundeskanzlei einreichen kann, kommt es zu einer Abstimmung.

Falls das Parlament Änderungen in der Bundesverfassung vornimmt, kommt es zu einem obligatorischen Referendum.

Beim fakultativen Referendum ist bei der Abstimmung nur das Volksmehr ausschlaggebend, beim obligatorischen das Volks- und das Ständemehr (Kantone).

Die Europäische Bürgerinitiative ist ein durch den Vertrag von Lissabon beschlossenes Instrument der direkten Demokratie in der Europäischen Union (EU). Von ihr kann seit dem 1. April 2012 Gebrauch gemacht werden.

Es ist ein Initiativ-Verfahren, ähnlich der Volksinitiative in manchen deutschen Bundesländern und dem Volksbegehren in Österreich. Durch die Bürgerinitiative können die EU-Bürger bewirken, dass sich die Europäische Kommission mit einem bestimmten Thema befasst. Eine Volksabstimmung ist jedoch nicht vorgesehen.

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