Der zweite Tunnel ist noch lange nicht gebaut
Die Kleine Parlamentskammer hat am 20. März dem Bau eines zweiten Strassentunnels durch den Gotthard zugestimmt. Wenn über diesen Alpendurchstich an einer Volksabstimmung entschieden wird, werden nicht nur ökologische Fragen oder die Sicherheit eine wichtige Rolle spielen. Das Zünglein an der Waage könnten regionale Überlegungen sein.
Wohin mit den über sechs Millionen Fahrzeugen, die jedes Jahr durch den Gotthard-Strassentunnel fahren? Eine Frage, die immer dringender wird, weil in ein paar Jahren der Autobahntunnel wegen Sanierungsarbeiten für den Verkehr komplett geschlossen werden muss. Die Arbeiten dauern, je nach Variante, zwischen zweieinhalb und sieben Jahren.
Eine erste Antwort gab der Ständerat, die Kantonskammer des Parlaments, am 20. März. Mit 25 zu 16 Stimmen nahm er den Vorschlag der Regierung an, eine zweite Tunnelröhre zu bauen und die Sanierungsarbeiten hinauszuschieben, bis der neue Tunnel eröffnet werden soll, im besten Fall 2027.
Die Lösung würde eine längere Schliessung dieser «Nabelschnur» zwischen dem Süden des Landes und dem Rest der Schweiz verhindern, wie Ständerat Filippo Lombardi sagte.
Selbst wenn die zweite Röhre auch von der Grossen Parlamentskammer angenommen wird, steht ihr noch ein viel höheres Hindernis bevor: Das Verdikt des Stimmvolks.
Die Sanierung des alten Gotthard-Strassentunnels und der Neubau einer zweiten Röhre würde laut Schätzungen des Bundesrats 2,8 Mrd. Fr. kosten.
Bei einer Sanierung ohne Neubau würden Kosten von 650 bis 890 Mio. Fr. entstehen
Um den Verkehr während der Schliessung des Tunnels zu organisieren, wären eine ganze Serie von Begleitmassnahmen nötig, darunter der Verlad von Autos und Lastwagen auf die Schiene. Eine solche «rollende Landstrasse» zwischen Rynächt (Uri) und Biasca (Tessin) würde für LKW zwischen 410 und 770 Mio. Fr., für Automobile zwischen 160 und 280 Mio. Fr. kosten.
Zusammen mit den Investitionen, die für eine Verlängerung der Sommer-Öffnungszeiten der Gotthard-Passstrasse nötig sind, werden die Gesamtkosten einer Sanierung mit Begleitmassnahmen auf 1,2 bis 2 Mrd. Fr. geschätzt.
(Quelle: Eidgenössisches Departement für Umwelt, Verkehr, Energie und Kommunikation)
Ein «Trojanisches Pferd»?
Dass ein Referendum ergriffen wird, gilt als gesetzt. Denn der Verfassungsartikel zum Schutz der Alpen, 1994 vom Stimmvolk angenommen, verbietet eine Kapazitätserhöhung der Transitachsen durch die Alpen. Deshalb sieht das Projekt der Regierung vor, dass nach der Sanierung des alten Tunnels beide Röhren nur einspurig befahren werden sollen.
Augenwischerei, antworten die Gegner eines zweiten Strassentunnels. «Einerseits haben wir die Erklärungen der Politiker, andererseits die Realität der Fakten. Den Beweis hatten wir bereits 1980, als der damalige Bundesrat Hans Hürlimann sagte, der Strassentunnel werde nie zu einem Transitkorridor für den Schwerverkehr werden», sagt Fabio Pedrina, Präsident des Vereins Alpen-Initiative.
Seit der Eröffnung des Gotthard-Strassentunnels 1981 hat sich die Zahl der Lastwagen praktisch vervierfacht, von 300’000 auf über eine Million. «Mit dieser Änderung [des Bundesgesetzes über den Strassentransitverkehr im Alpengebiet] befinden wir uns in einer vergleichbaren Situation: Im Gesetz erklären sie sich einverstanden, die Bundesverfassung einzuhalten und die Kapazitäten nicht zu erhöhen, doch dann zwingt sie die Realität, anders zu handeln.»
Die Gegner befürchten, dass man sich damit ein «Trojanisches Pferd» einhandelt. Wie könne man, mit beiden Tunnels in Betrieb, dem unweigerlich entstehenden Druck standhalten, in beiden Röhren je zwei Spuren zu öffnen?
«Wer glaubt, dass das Ausland, ja nur schon das Inland auf Dauer akzeptieren werde, dass sich Stau vor einer Tunnelröhre bildet, in welcher der Pannenstreifen nicht befahren wird, der glaubt gleichzeitig an den Storch, den Osterhasen und das Christkind», sagte der Luzerner Konrad Graber von der Christlichdemokratischen Volkspartei (CVP) bei der ersten Debatte im Ständerat.
Transportministerin Doris Leuthard versicherte ihrerseits, dass keine Konzessionen gemacht würden. «Gesetz ist Gesetz», betonte sie und präzisierte, sie habe die schriftliche Garantie des EU-Kommissars für Verkehr, Siim Kallas, erhalten. Eine zweite Röhre ohne Kapazitätserhöhung sei laut ihm kompatibel mit dem Bilateralen Abkommen über Transporte zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU).
Sicherheit und nationaler Zusammenhalt
Ein gewichtiges Argument, das die Befürworter eines zweiten Tunnels ins Feld führen, ist die Frage der Sicherheit. Heute könnte ein Strassentunnel in der Art des Gotthards nicht mehr so gebaut werden, «weil er allen schweizerischen und europäischen Sicherheitsnormen zuwiderläuft», wie Filippo Lombardi in der Debatte unterstrich.
Mit zwei getrennten Röhren, in denen sich der Verkehr nur je in eine Richtung bewegt, fällt das Risiko von Frontal- oder Streifkollisionen weg, wie beispielsweise beim schweren Unfall 2001, als nach einem Zusammenstoss von zwei Lastwagen in der anschliessenden Feuersbrunst 11 Menschen ihr Leben verloren hatten.
Die Gegner sehen allerdings andere Möglichkeiten, die Sicherheit zu erhöhen, beispielsweise durch eine verstärkte Mittellinie oder mit Abstandradar im Auto. Doch es reicht eine unbedeutende Erhöhung des Verkehrs zwischen 3 und 5% auf der Nord-Süd-Achse, um die Unfallgefahr zu erhöhen, was erneut für zwei getrennte Röhren sprechen würde.
Der Kanton Tessin, der in diesem Sinn von zahlreichen Parlamentariern wie auch von Bundesrätin Leuthard unterstützt wird, bringt auch wirtschaftliche Gründe und den nationalen Zusammenhalt ins Spiel. Eine längere Schliessung des Strassentunnels würde Verluste in der Höhe von 250 Millionen Franken verursachen, hauptsächlich für den Kanton Tessin.
Und was den nationalen Zusammenhalt betreffe, «kann sich die Schweiz nicht erlauben, drei Jahre lang einen Teil ihres eigenen Territoriums, einen ganzen Kanton und eine der vier Sprachregionen dieser Nation zu isolieren», sagte Lombardi.
Im Februar 1994 hat das Schweizer Stimmvolk die Volksinitiative «zum Schutze des Alpengebietes vor dem Transitverkehr» mit 52% angenommen. Sie schreibt vor, dass der alpenquerende Gütertransitverkehr von Grenze zu Grenze auf der Schiene zu erfolgen hat und die Transitstrassen-Kapazität im Alpengebiet nicht erhöht werden darf.
Zehn Jahre danach, im Februar 2004, wurde der so genannte Avanti-Gegenvorschlag für den Bau eines zweiten Autobahn-Tunnels am Gotthard vom Stimmvolk mit 62,8% verworfen.
Im Mai 2011 sagt das Urner Stimmvolk in einer kantonalen Abstimmung erneut Nein zu einem Neubau.
«Warum dort und nicht bei uns?»
Wenn es aber darum gehen wird, den Stimmzettel auszufüllen, werden diese Argumente in Regionen, die nicht direkt von der Gotthardachse profitieren, wohl nicht viel zählen. Besonders nicht in der Romandie.
«Seit dem Nein zur Erhöhung des Vignettenpreises [der einen Ausbau des Schweizer Autobahnnetzes vorgesehen hätte und vom Stimmvolk am 24.11.2013 abgelehnt wurde] musste das grösste Autobahnprojekt der Westschweiz, die Umfahrung von Morges zwischen Lausanne und Genf,
eingestellt werden», sagt Patrick Eperon, Verkehrsexperte und Kommunikationschef des Arbeitgeber-Verbandes Centre Patronal im Kanton Waadt. «Unter diesen Umständen ist es praktisch unmöglich, den Leuten in unserer Region einen Ausbau des Gotthards schmackhaft zu machen, den sie nur sehr selten benützen.»
Umso mehr, als die Kosten für die Umfahrung von Morges, rund 3 Milliarden Franken, mehr oder weniger jenem Betrag entsprechen, der für eine zweite Röhre am Gotthard aufgewendet werden müsste.
«Auch symbolisch hat deshalb die zweite Gotthardröhre in der Romandie wenig Chancen. ‹Warum 3 Milliarden für den Gotthard ausgeben, wo täglich 20’000 Fahrzeuge durchfahren, und nichts für Morges mit täglich 100’000 Fahrzeugen?› Diese Art von Fragen können einen grossen Einfluss auf die Kampagne haben.»
Solche Überlegungen gelten nicht nur für die Genfersee-Region, sondern auch für andere Gegenden. Beispielsweise den Kanton Neuenburg, wo das Projekt zur Umfahrung von La Chaux-de-Fonds und Le Locle (mit ähnlichem Verkehrsaufkommen wie am Gotthard) auf Eis gelegt wurde.
In einem Interview mit dem Corriere del Ticino erklärte Paolo Beltraminelli, Mitglied der Tessiner Kantonsregierung, er verstehe, dass es schwierig sei, die Lösung einer zweiten Gotthardröhre in anderen Kantonen und besonders in der Romandie verständlich zu machen.
«Wir müssen ihnen zu verstehen geben, dass es zuallererst eine Sanierung ist (…), nicht ein Neubau, und dass es deshalb nicht in Konkurrenz tritt zu anderen geplanten Projekten im Rest des Landes. Deshalb hoffe ich, dass für einmal die lateinische Solidarität in umgekehrter Richtung spielt.»
Dies sei aber überhaupt nicht klar, sagt Eperon. Besonders nicht nach dem Resultat zur Volksinitiative «gegen Masseneinwanderung», die im Kanton Tessin massiv angenommen und in der Westschweiz klar abgelehnt wurde. «Ein Appell an die nationale Solidarität nach der Abstimmung vom 9. Februar ist ein Argument, das in der Romandie wohl kaum ziehen wird.»
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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