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Deutsche Grosszügigkeit gegen Schweizer Diskretion

Die Schweiz ist nicht Deutschland. Empfangskomitee für eine einzige syrische Familie am Bahnhof Buchs (Kanton St. Gallen) am 1. September. Keystone

Deutschland hat seine Türen und Herzen für syrische Flüchtlinge weit geöffnet – und was tut die Schweiz? Man kann den Verdacht einer gewissen Zurückhaltung hegen, doch undurchsichtige Zahlen sagen nicht alles aus: Die Realität ist eher die des guten Schülers, der aber mehr tun könnte.

Nach dem stillen Grauen über das Bild des kleinen toten Jungen an einem Strand in der Türkei sorgten am vergangenen Wochenende Bilder des Jubels aus Deutschland weltweit für Schlagzeilen. Die Menschenmengen, die in München oder Frankfurt Flüchtlinge mit offenen Armen willkommen hiessen, zeigten, dass die Entscheide, welche die Regierung Merkel einige Stunden vorher gefällt hatte, mehr als nur Worte waren.

Zur gleichen Zeit, und im Kontrast dazu, wirkte der Bahnsteig am Bahnhof Buchs in der Ostschweiz, wo eine Handvoll von Freiwilligen eine einzige syrische Familie willkommen hiess, eher trostlos. Sollte sich die Schweiz angesichts der Grosszügigkeit des grossen Nachbarn im Norden schämen?

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«Was in diesen Tagen in Deutschland passiert, ist tatsächlich aussergewöhnlich», erklärt Robin StünziExterner Link, Doktorand an der Universität Neuenburg. «Das Land ist wieder die treibende Kraft, die es auch Anfang der 1990er-Jahre während der Balkankrise war. Angela Merkel hat eine dreifache Botschaft: an ihr Volk, an die Syrer und an Europa, an dessen Adresse sie sagt: ‹Zeit, dass ihr nun auch mitmacht.'»

Auch wenn die Schweiz nicht wie Deutschland proaktiv sei, betrachtet dieser Asylexperte das Land «nicht als zurückhaltend kühl». Was die Öffnung für syrische Flüchtlinge angehe, «befindet sich die Schweiz sogar eher in der oberen Hälfte der europäischen Länder», sagt er.

Um zu beurteilen, ob die Schweiz genug macht, «kann man auch hervorheben, was sie seit 2013 schon getan hat, und was nicht unbedingt viel Niederschlag in den Medien fand», erklärt ihrerseits Céline Kohlprath, Sprecherin des Staatssekretariats für Migration (SEMExterner Link).

3000 gegen 800’000?

2013, als über den Einsatz von chemischen Waffen in Syrien berichtet wurde, entschied der Bundesrat (Regierung), dass Syrer, die schon in der Schweiz waren, Mitglieder ihrer erweiterten Familien nachkommen lassen konnten (das heisst, auch erwachsene Kinder, Brüder, Schwestern und Grosseltern). Bis heute kamen unter diesem Titel 4700 Personen in die Schweiz. «Nicht alle haben ein Asylgesuch gestellt», präzisiert Kohlprath. «Doch auch wer dies nicht tat, erhielt auf jeden Fall eine provisorische Aufenthaltsbewilligung.»

Ebenfalls 2013 fiel der Entscheid, ein Kontingent von 500 besonders verletzlichen syrischen Flüchtlingen aufzunehmen, vor allem Frauen und Kinder. Bisher kamen im Rahmen dieses Pilotprojekts, das einen starken Akzent auf Integration und Unterstützung durch spezifisch trainierte Begleitpersonen setzt, gegen 410 Flüchtlinge in die Schweiz.

Und am 6. März 2015 beschloss der Bundesrat, dass vorläufig aufgenommene Personen aus Syrien ihre Familien sofort nachkommen lassen können – und nicht drei Jahre warten müssen, was sonst in der Regel der Fall ist. Die Regierung ging davon aus, dass bis Ende Jahr so rund 1000 Personen in die Schweiz kommen würden, die weiteren 2000 in den beiden darauf folgenden Jahren.

Diese in den Medien oft erwähnte Zahl von 3000 mag angesichts der 800’000 Flüchtlinge, die Deutschland bis Ende Jahr aufzunehmen bereit ist, etwas lächerlich erscheinen. Robin Stünzi warnt in dem Zusammenhang jedoch vor falschen Perspektiven: «Die Medien waren etwas vorschnell mit dieser Zahl von 800’000, die am Anfang als mögliches Maximum genannt worden war. Das würde in den letzten Monaten des Jahres nochmals eine halbe Million Flüchtlinge bedeuten. Man weiss jedoch aus Erfahrung, dass die Spitzenwerte der Ankünfte in den Sommer fallen; ich weiss nicht, wie es noch zu einer solch hohen Anzahl kommen könnte.»

Hinter den Zahlen

Es dürften also kaum 800’000 Menschen werden, die unter Beifall in Deutschland eintreffen werden. Aber auch in der Schweiz sagen die Zahlen nicht alles aus. Von den 1000 Flüchtlingen, die in diesem Jahr aufgrund einer Sonderbewilligung in die Schweiz einreisen könnten, sind nach Angaben der Behörden bisher nur 79 angekommen, «viel weniger, als wir nach den Erfahrungen von 2013 erwartet hatten», räumt Céline Kohlprath ein.

Warum nur so wenige? Der Grund ist, dass die Nutzniesser dieser RegierungsmassnahmenExterner Link nicht jene Leute sind, die vor der Grenze stehen. Sie werden in «enger Zusammenarbeit mit dem UNO-Flüchtlingshilfswerk (UNHCRExterner Link) ausgewählt», und zwar in Lagern, welche die UNO-Organisation in den Nachbarländern Syriens betreibt (zurzeit befinden sich mehr als 1,9 Millionen Flüchtlinge in der Türkei, 1,1 Millionen in Libanon, 630’000 in Jordanien und 250’000 in Irak).

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Die Dossiers der ausgewählten Flüchtlinge werden noch dem Nachrichtendienst vorgelegt, der mit einer Überprüfung möglichst sicherstellen soll, dass sich keine Dschihadisten eingeschlichen haben. Und all dies nimmt Zeit in Anspruch.

Anders als die Regierung in Berlin hat die Schweizer Regierung nicht plötzlich Tür und Tor für einen massiven Zustrom von Flüchtlingen geöffnet, den es hier im Moment so oder so nicht gibt. Ob sie über das Meer oder über Land kommen, die syrischen Flüchtlinge folgen zurzeit vor allem Routen, die nicht unbedingt durch die Schweiz führen.

Zudem ist bekannt, dass sie oft in ein Land wollen, wo sie Verwandte haben oder sich viele ihrer Landsleute befinden – und in der Schweiz leben nicht viele Menschen aus Syrien. Die liberalere Asylpraxis in Ländern wie Deutschland oder Schweden macht diese zudem attraktiver.

Dies erklärt auch die jüngsten monatlichen Zahlen des SEM: Im August wurden in der Schweiz 3899 Asylgesuche registriert, nur 3 (!) mehr als im Juli. Unter den Asylsuchenden im August kamen 1610 aus Eritrea, 461 aus Afghanistan und nur 401 aus Syrien.

Und um bei den Zahlen zu bleiben: Seit Beginn des Krieges 2011 hat die Schweiz (bis am 31. August 2015) insgesamt 9199 Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. 2307 erhielten Asyl, 5540 weitere wurden provisorisch aufgenommen. Das Schicksal der anderen rund 1300 Flüchtlinge ist noch offen.

«Ein guter Schüler, aber kein Held»

Ist das zu viel, oder nicht genug? Mitten in den Kampagnen zu den Schweizer Parlamentswahlen vom 18. Oktober haben alle Parteien Antworten auf diese Fragen. Und einen ersten Eindruck kann man am 9. September gewinnen, wenn der Nationalrat (grosse Kammer) bei einer ausserordentlichen Sitzung über das Thema Asyl diskutieren wird.

Derweil stellte Etienne Piguet, Geograf und Vizepräsident der Eidgenössischen Kommission für Migrationsfragen, in einem Beitrag für einen BlogExterner Link des Westschweizer Magazins L’Hebdo Zahlen für die Schweiz aufgrund der verschiedenen Kriterien zusammen, die für einen allfälligen europäischen Verteilschlüssel zur Aufnahme Asylsuchender berücksichtigt werden könnten. Ein Verteilschlüssel, den es bisher nicht gibt.

Zieht man die Fläche der Schweiz und ihre Bevölkerungszahl in Betracht, tut die Schweiz klar mehr als ihre Pflicht. 2014 nahm sie mehr als 22’000 Asylsuchende unterschiedlichster Nationalitäten auf, während sie diesen Kriterien zufolge auf etwa 9000 gekommen wäre.

Der Experte ist jedoch der Ansicht, dass diese beiden Kriterien allein nicht ausreichend sind, weil sie den Reichtum des Landes ignorieren. Zieht man für die Berechnung auch Bruttoinlandprodukt (BIP) und Arbeitslosenrate hinzu, müsste die Schweiz etwas mehr Asylsuchende aufnehmen, als derzeit der Fall ist.

Piguet kommt zu folgendem Fazit: «Die Schweiz ist sicher bei der Aufnahme ein guter Schüler, mit Blick auf ihren Wohlstand hat sie dabei aber nichts von einem Helden. Wenn sie ihre humanitäre Tradition ehren will, kann sie ihre Türen noch viel weiter öffnen.»

Auch Robin Stünzi will an die humanitäre Tradition glauben: «Ich fühle ein neues Bewusstsein in der Schweiz, vor allem gegenüber den Menschen aus Syrien. Und die jüngst in Deutschland, Frankreich, Grossbritannien – und vielleicht bald auch in anderen Ländern – gefällten Entscheide werden dieses Bewusstsein verstärken. Sicher, da war dieses schreckliche Bild des kleinen Aylan, aber schon vorher waren sich die Leute bewusst, dass man diesen Menschen helfen muss.»

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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