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Deutschland bremst Eisenbahn-Güterverkehr durch Europa aus

Schiene frei: Letzte Testfahrten im neuen Ceneri-Basistunnel. Mit der Eröffnung am 4. September ist das Neat-Jahrhundertprojekt abgeschlossen. Keystone / Alessandro Crinari

Der Unmut ist gross: Während die Schweiz am Tessiner Ceneri fristgerecht den neuen Eisenbahn-Basistunnel eröffnet, hinkt Deutschland beim Ausbau der zentralen Zulaufstrecke zwei Jahrzehnte hinterher. So kommt die Verlagerung des Güterverkehrs auf die Bahn nicht voran.

Vom Nordseehafen bis zur Mittelmeerküste, über 1300 Kilometer von Rotterdam bis Genua, soll eine moderne Schienenachse dafür sorgen, dass mehr Fracht von Lastwagen auf Züge verlagert wird.

Dieser Plan ist Jahrzehnte alt und der Schweiz kommt beim Ausbau der Strecke auf ihrem herausfordernden Weg durch die Alpen eine zentrale Rolle zu: Ihr ist es nun gelungen, ihren Teil, die Neue Eisenbahn-Alpentransversale Neat, mit der Eröffnung des Ceneri-Basistunnels fristgerecht zu vollenden.

Doch während die Schweizer drei imposante Tunnel durch die Berge bohrten – vor dem Ceneri wurde der Lötschberg-Basistunnel 2007 eröffnet, der Gotthard-Basistunnel dann 2016  – ist die deutsche Seite mit der Anschlussstrecke in der Ebene erheblich im Verzug. Weiterhin werden auf deutscher Seite die Güterzüge gen Süden im Nadelöhr der Rheinstrecke ausgebremst.

Ein echtes Ärgernis für die verlässlichen Schweizer: Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga wiederholte kurz vor der Eröffnung des Ceneri-Tunnels ihre Kritik am nördlichen Nachbarn: In Italien sei man auf Kurs, in Deutschland nicht, so die Schweizer Verkehrsministerin.

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Auf der zentralen Strecke am Oberrhein sind bisher erst 60 von 182 Kilometern viergleisig ausgebaut: davon 44 Kilometern zwischen Baden-Baden und Offenburg und knapp 18 Kilometer nördlich von Basel.

Entlang mancher Abschnitte im Rheintal wird indes noch diskutiert, wo die neuen Gleise für den Güterverkehr in Süddeutschland verlaufen sollen: Parallel zu bestehenden, in Ortsumfahrungen oder entlang der Autobahnen? Überirdisch begleitet durch Lärmschutzwände oder tiefer gelegt?

Bereits 1992 sagte das Schweizer Stimmvolk Ja zum Bau der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale. Herzstück der so genannten Neat sind die drei Tunnel durch Gotthard, Lötschberg und Ceneri.

Am 6. September 1996 unterzeichneten Bern und Berlin in Folge in Lugano einen Staatsvertrag, in dem sich beide Seiten dazu verpflichteten, die Voraussetzungen für einen leistungsfähigen Eisenbahnverkehr zwischen der Schweiz und Deutschland zu schaffen.

In der Schweiz begannen die Bauarbeiten bereits 1999. Mittlerweile werden in der Schweiz bereits rund 40 Prozent des Güterverkehrs mit Zügen bewegt, in den Alpenregion sogar 70 Prozent. In Deutschland liegt der Anteil bei 18 Prozent.

«Kapazitäten reichen hinten und vorne nicht»

Die mit dem Ceneri-Tunnel komplettierte Neat kann ihren Zweck jedoch nur erfüllen, wenn die Güterzüge auch auf den Zulaufstrecken nördlich und südlich der Schweiz frei Fahrt haben: auf eigenen Gleisen und mit einer modernen Infrastruktur. Nach heutigem Stand wird der deutsche Streckenabschnitt nicht vor 2041 gänzlich vierspurig sein – 20 Jahre, nachdem die Schweiz ihren Teil der Verabredung eingelöst hat.

Dabei hatte Berlin der Schweiz bereits 1996 im Vertrag von Lugano zugesichert, den wichtigen und viel befahrenen Schienenabschnitt zwischen Karlsruhe und Basel um zwei Spuren auf vier zu erweitern. Damit bekäme der Güterverkehr eigene Gleise und müsste sich nicht wie derzeit dem Personenverkehr unterordnen.

Ein konkretes Jahr nennt der Vertrag von Lugano nicht. Dort heisst es, der Ausbau solle «mit der Verkehrsnachfrage Schritt halten». Das tut er nach Auskunft von Verkehrsexperten jedoch schon lange nicht mehr: «Die Streckenkapazitäten auf der Rheintrasse reichen vorne und hinten nicht», sagt Peter Westenberger, Geschäftsführer des Netzwerks Europäischer Eisenbahnen mit Sitz in Berlin, dem auch Schweizer Unternehmen angehören.

Peter Westenberger ist es ein Anliegen, zunächst einen «Glückwunsch und Dank an die Schweiz» zu senden. Sie halte Wort, im Gegensatz zu Deutschland. Dort hätten Regierung und Deutsche Bahn die Planung einfach nicht ernst genug genommen worden, die Budgets seien zu niedrig, der Prozess zu lethargisch gewesen. Kurzum: Der politische Wille habe gefehlt.

Auch Bürgerproteste verzögern Bau

Auch der deutsche Verband «Allianz pro Schiene» geisselt die Verzögerung: «Ich kann es gut verstehen, wenn die Schweizer über den Stillstand in Deutschland nur noch den Kopf schütteln,» sagt Geschäftsführer Dirk Flege. «Die Schweiz bohrt für viele Milliarden Tunnel durch die Alpen. Und wir hinken beim oberirdischen Ausbau Jahre und Jahrzehnte hinterher.»

Das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur in Berlin will sich derweil nicht zu der Kritik äussern. Es verweist auf die geplante Teilnahme von Staatssekretär Michael Güntner an der Eröffnung des Ceneri-Tunnels. Güntner vertritt dort seinen Minister Andreas Scheuer, der vermutlich kein grosses Interesse daran besitzt, angesichts eigener Versäumnisse die Glanzleistung des Nachbarn zu feiern.

Nicht nur politisches Versagen, auch Bürgerproteste, Einsprüche, Klagen und jahrelange Gerichtsverfahren haben ihren Teil zur Verzögerung beigetragen. Die meisten Deutschen wünschen sich zwar mehr Güterverkehr auf der Schiene. Doch nur, solange sie selbst nicht von der Streckenführung persönlich betroffen sind. Ein Detail: Sieben Jahre – von 2009 bis 2017 – dauerte es in Freiburg im Breisgau, bis sich die Bahn mit zahlreichen Bürgerinitiativen auf ein verbessertes Schallschutzkonzept geeinigt hatte.

Nur: Auch in der Schweiz war die Neat nicht sakrosankt. Nur ist dort die Partizipation des Volks institutionalisiert, dass solche Jahrhundertprojekte zu wahren Glanzstücken der direkten Demokratie werden.

Bern sieht sich nach Alternativen um

So ist es wohl als deutliches Signal Berns in Richtung Deutschland zu verstehen, dass die Schweiz parallel mit Belgien und Frankreich über eine alternative Strecke über Strassburg und Metz nach Belgien an die Kanalküste verhandeln wollen.

Nationalrat und Ständerat haben den Bundesrat beauftragt, Verhandlungen darüber aufzunehmen. Dann gäbe es auch eine Ausweichroute, falls wie 2017 nach einem Gleiseinbruch im badischen Rastatt die für den Güterverkehr so wichtige Strecke für zwei volle Monate komplett gesperrt war.

Auch um die Wogen zu glätten, hatte Berlin 2019 zugesagt, kurzfristig zumindest die Kapazitäten auf der überlasteten Rheintal-Strecke zu erhöhen. Täglich sollten dann immerhin 225 statt wie bisher 175 Güterzüge Richtung Schweiz fahren. Anfang Februar 2020 hiess es dann von deutscher Seite, die erforderlichen Massnahmen könnte erst 2023 umgesetzt werden. In Bern ist wird man diesen Zahlen eh nicht mehr trauen.

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