«Die Sonderbesteuerungen werden verschwinden»
Der Kanton Neuenburg schafft die Steuerprivilegien für gewisse Unternehmen ab. Diese Reform, die den Forderungen der OECD nachkommt, wird einen Schneeballeffekt auf andere Kantone haben, sagt ein Schweizer Experte im Gespräch mit swissinfo.ch.
Eine Schlüsselabstimmung für die Zukunft des Kantons hat den Neuenburger Behörden während Monaten Kopfzerbrechen bereitet. Mit grosser Erleichterung nahmen sie deshalb am Sonntag das kantonale Abstimmungsresultat über die Unternehmenssteuer-Reform zur Kenntnis: Knapp 77% hiessen sie gut, trotz extrem schwacher Stimmbeteiligung (28,6%).
Damit verschwinden die Steuerprivilegien namentlich für ausländische Unternehmen im Kanton Neuenburg, die sich nach der Uhrenindustriekrise in den 1970er-Jahren im Kanton Neuenburg niedergelassen hatten.
Alle Unternehmen werden von nun an nach dem gleichen System besteuert, wobei Neuenburg zu den steuerattraktivsten Kantonen der Schweiz gehören wird: Die Gewinnsteuer für Unternehmen wird innert fünf Jahren von 10 auf 5% gesenkt, die Kapitalsteuer für alle Holdings von 0,5 auf 0,005 Promille reduziert.
Bernard Dafflon, Professor für öffentliche Finanzen an der Universität Freiburg, ist der Ansicht, dass diese Reform in den Nachbarkantonen «eine wahre Epidemie auslösen wird». Denn die Volksabstimmung vom Sonntag liefert all jenen «ein phantastisches Argument», die Druck auf die Schweiz machen, ihre kantonalen Steuersysteme abzuschaffen.
swissinfo.ch: Ist für Sie die Steuerstrategie des Kantons Neuenburg kohärent?
Bernard Dafflon: Die vom Kanton Neuenburg gutgeheissene Steuerreform entspricht genau dem, was wir 2004 in einem Artikel geschrieben haben. Wir haben damals die Probleme in Sachen Gerechtigkeit und Ressourcen-Verteilung aufgezeigt, die durch die unterschiedliche Besteuerung generiert werden. 2011 setzt einer der 26 Kantone unsere Empfehlungen um – ich bin äusserst zufrieden.
Das Prinzip, keine Unterschiede mehr zu machen zwischen schweizerischen und ausländischen Unternehmen oder je nach Firmenaktivität, ist übrigens eine der Forderungen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) an die Schweiz.
Neuenburg ist der erste Schweizer Kanton, der diese neue Steuerarchitektur vollzieht. Wir werden von nun an eine Beschleunigung in dieser Sache erleben.
swissinfo.ch: Hat der Druck der Europäischen Union (EU), welche die «Abschaffung» der Sonderbesteuerungen fordert, den Kanton Neuenburg beeinflusst?
B.D.: Schwierig zu sagen. Eine solche Reform kann nicht von einem Tag auf den anderen vorbereitet werden. Sicher ist, dass der Kanton Neuenburg damit einen hübschen Marketing-Coup gelandet hat: Er zeigt eine gewisse Würde, rüstet sich innerhalb des Landes mit einem Wettbewerbsvorteil aus und erfüllt erst noch die OECD-Forderungen.
Im Rahmen des legitimen Steuerwettbewerbs zwischen den Kantonen müssen vor allem «schräge» Praktiken verhindert werden, wie Sonderbesteuerung, Pauschalbesteuerung oder zwielichtige Steuerrabatte für ausländische Firmenchefs.
Der Kanton Neuenburg bringt jetzt Ordnung in dieses Sonderbesteuerungs-System und ist damit auf dem richtigen Weg.
swissinfo.ch: Wird diese Steuerreform ein Modell für andere Kantone sein?
B.D.: Mehr als das: Die Reform wird eine wahre Epidemie auslösen. Die anderen Kantone werden nicht lange auf ihrem Weg beharren. Sie sehen nicht nur, wie ein Kanton auf eine höhere Ebene in seiner Steuerarchitektur gelangt, sie nehmen auch wahr, dass eine solche Reform sogar die demokratische Klippe überwinden kann.
Der Steuerwettbewerb folgt einer Logik des konzentrischen Kreises. Die ersten, die reagieren, werden die Nachbarkantone von Neuenburg sein, wie Bern, Waadt und Jura. Es wird sich aber weiter ausbreiten, zuerst in der französisch-sprachigen Schweiz und dann in der Deutschschweiz.
swissinfo.ch: Werden die anderen Kantone nicht Federn lassen müssen, wenn sie sich ihrerseits in eine solche Reform stürzen?
D.B.: Das Neuenburger Steuermodell kann in allen Kantonen angewendet werden. Die Abschaffung der Steuerprivilegien für gewisse Unternehmen erlaubt es, die durchschnittliche Unternehmens-Besteuerung für alle zu senken.
Allerdings können Kantone, die mehr Holdings auf ihrem Territorium haben, die Steuern nicht im gleichen Ausmass senken wie der Kanton Neuenburg, wenn sie nicht in eine Logik des Steuerdumpings eintreten wollen. Wenn sich die Kantone nach dem Steuersatz von 5% richten, wie ihn Neuenburg anwenden wird, wird es zu Verlusten kommen.
swissinfo.ch: Wir werden also eine neue Runde im kantonalen Steuerwettbewerb erleben.
D.B.: Die Schlacht hat bereits begonnen. Der Steuerwettbewerb war während der 1990er-Jahre stark. dann hat er sich für vier, fünf Jahre etwas beruhigt. Heute beginnt er wieder rasant.
Es gibt jedoch zwei Bremsklötze für diesen Steuerwettbewerb: Der erste sind die Regeln für ein ausgeglichenes Budget, die sich die Kantone auferlegt haben. Die zweite Bremse betrifft die Einkommenssteuer, die allgemein als Kompensation für die Senkung der Unternehmenssteuer eintritt.
Wenn es den Kantonen nicht gelingt, eine zusätzliche Basis zu gewinnen, die eine Anpassung der Steuer für physische Personen ermöglicht, dann wird das Volk bei einer erneuten Abstimmung über eine solche Reform das Geschäft ablehnen.
swissinfo.ch: Werden die Sonderbesteuerungen für ausländische Unternehmen in der Schweiz verschwinden?
D.B.: Absolut, und das wird in den nächsten zehn Jahren passieren. Zwischen dem Beispiel der Neuenburger Reform und dem Druck von aussen werden die Kantone keine andere Wahl haben. Bisher hat die Schweizer Regierung bei den Verhandlungen mit der OECD und der EU mit der kantonalen Souveränität argumentiert. Heute gilt das nicht mehr.
Das eindeutige «Ja» der Neuenburgerinnen und Neuenburger zur Unternehmenssteuer-Reform liefert in der Tat all jenen ein phantastisches Argument, die Druck auf die Schweiz ausüben.
Diese können den Schweizer Behörden von nun an sagen: «Wenn es möglich ist, eine Volksabstimmung im Kanton Neuenburg zu gewinnen, könnt Ihr uns nicht sagen, dies sei in den anderen 25 Kantonen nicht möglich.»
swissinfo.ch: Und was ist mit der Pauschalbesteuerung für physische Personen?
D.B.: Die sind ebenfalls zum Verschwinden verurteilt. Jetzt ist eine Antwort auf die Sonderbesteuerung von Unternehmen erfolgt. Die nächste Etappe wird die Sonderbesteuerung von physischen Personen sein. Und diese Reform wird schneller kommen als man denkt.
Referendum. Mit einer Mehrheit von knapp 77% hat das Neuenburger Stimmvolk am Sonntag die Revision der kantonalen Unternehmens-Steuer angenommen.
Das Gesetz war vom Neuenburger Kantons-Parlament mit grosser Mehrheit gutgeheissen worden. Eine Bürgergruppe ergriff jedoch das Referendum dagegen.
Ein Teil der extremen Linken schätzte die Reform als «Steuerdumping» ein und wollte die «Steuergeschenke an Kapitalinhaber» nicht akzeptieren.
Massnahmen. Die Reform sieht eine Senkung der Gewinnsteuer für Unternehmen innert 5 Jahren von 10 auf 5% vor. Zudem wird die Kapitalsteuer für Holdings von 0,5 auf 0,005 Promille reduziert.
Ende der Steuerprivilegien. Die Steuerprivilegien für ausländische Unternehmen im Rahmen der regionalen Wirtschafts-Entwicklung werden abgeschafft, ausser in Ausnahmefällen. Gegenwärtig ist die Hälfte der Gewinne von Firmen im Kanton steuerfrei.
Steuerhölle. Der Gesamtsteuerfuss (Bund, Kanton, Gemeinden) für Unternehmen wird sich auf 15,6% belaufen, was Neuenburg auf Rang 7 im Klassement der Steuer-Attraktivität von Schweizer Kantonen platziert.
Oft als «Steuerhölle» bezeichnet, wird sich der Kanton Neuenburg ab 2013 der Revision der Besteuerung der physischen Personen annehmen.
Kritik. Die EU kritisiert seit längerem schon gewisse kantonale Besteuerungs-Modalitäten, die nach ihrer Ansicht ausländische Unternehmen bevorzugen – so etwa ist ihr das Holding-Privileg ein Dorn im Auge.
Mit dem Neuenburger Modell werden ausländische und inländische Unternehmen künftig einheitlich besteuert.
Dehnbarkeit. Es stellt sich die Frage, ob das Modell aus Neuenburg nicht schweizweit angewendet werden könnte, um den Steuerstreit mit der EU beizulegen.
Eine Arbeitsgruppe, bestehend aus Vertretern des Bundes, der Kantonalen Finanzdirektoren-Konferenz und der eidgenössischen Steuerverwaltung, beschäftigt sich mit dieser Problematik.
Skepsis. Trotz Europa-Kompatibilität ist für Mario Tuor vom Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF) das Modell aus Neuenburg nur eine Lösung für einige wenige Kantone.
In jenen Kantonen – darunter laut Tuor auch einige grosse -, in denen die Zahl einheimischer Unternehmen überwiegt, würde das Neuenburger Modell ein zu grosses Loch in die Staatskassen schlagen.
Denn die erzielten Verluste durch Steuersenkungen bei Schweizer Unternehmen könnten nicht durch Mehreinnahmen bei ausländischen Unternehmen kompensiert werden.
(Übertragung aus dem Französischen: Jean-Michel Berthoud)
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