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Direktdemokratie auch in Slowenien

Die Alpenrepublik Slowenien teilt vieles mit der Schweiz: Hohe Berge, kleine Bevölkerung, viel direkte Demokratie. imagepoint

Die Schweiz ist im Alpenraum nicht die einzige Direktdemokratie. Auch Sloweniens Verfassung ermöglicht den Bürgern weitreichende Volksrechte. Uwe Serdült, ein Experte des Zentrums für Demokratie Aarau, vergleicht die beiden Systeme.

Slowenien, lange Zeit schnell wachsender Vorzeigestaat unter den ex-kommunistischen Transitionsländern, steckt seit der globalen Finanzkrise nicht nur in einer Exportflaute, sondern auch in einer selbstgemachten Politkrise. Diese spiegelt die starke Polarisierung der Nation.

Im politischen Alltag zeigt sich das daran, dass das direktdemokratische Instrumentarium aus der Sicht vieler Slowenen von einem Teil der politischen Parteien zu Wahlzwecken missbraucht wird.

Um dies institutionell einzuschränken, schlagen slowenische Experten vor, im Fall des Ergreifens eines Referendums einen Mindest-Prozentsatz für die Stimmbeteiligung festzulegen. In Italien beträgt dieses benötigte Quorum 50%, im Bundesland Baden-Württemberg 25%. In Slowenien beteiligen sich erfahrungsgemäss kaum mehr als 25% an Abstimmungen.

In der Schweiz käme so eine Regelung manchem wie ein Tabubruch vor. Sie wird auch kaum diskutiert, obschon auch hierzulande die zeitweise schwache Stimmbeteiligung ein Thema ist. Doch das langjährige Mittel der Stimmbeteiligung hat sich wieder etwas erholt und liegt bei 45%.

Gegen solche «Beteiligungs-Quoren» spricht sich Uwe Serdült, Schweizer Politik-Experte vom Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA), aus. «Die ganze Auseinandersetzung mit der Abstimmungsvorlage riskiert dann, auf die Frage reduziert zu werden, ob genügend Leute an die Urne gehen oder nicht», sagt er gegenüber swissinfo.ch.

Negativbeispiel Italien

Serdült empfindet dies als negativ, besonders in der Zeit vor der Abstimmung. «Das sieht man im Fall von Italien mit seinen Negativkampagnen gut. Der Papst oder Berlusconi finden dann, die Leute sollten lieber zuhause bleiben, statt sich inhaltlich mit der Vorlage auseinander zu setzen.»

Solche Einflussnahmen stellten die gesamte Partizipation des Stimmbürgers in Frage.

Auch in Slowenien sieht man ein, dass die italienische Lösung nicht optimal ist. In Slowenien gehe es vor allem darum, dass nicht jedes im Parlament verabschiedete Gesetz gleich wieder per Plebiszit abgeschafft werde.

Slowenische Experten möchten deshalb besonders bei Vorlagen mit tiefer Stimmbeteiligung eine Garantie, dass wirklich ein repräsentativer Teil der Bevölkerung entscheide, sonst käme es zu einer «Diktatur der Minderheiten». Eine solche ähnliche Lösung gebe es bereits in Dänemark.

Lieber gar keine statt Mindestbeteiligungen

Serdült dreht indessen den Spiess ganz um und schlägt vor, bei unbestrittenen Sachgeschäften Referenden ganz abzuschaffen. Denn je unbestrittener eine Vorlage, desto grösser sei erfahrungsgemäss das Risiko, dass die Stimmbeteiligung tief bleibe respektive die Mindestbeteiligung nicht erreicht werde.

Deshalb hätten die Kantone begonnen, obligatorische Gesetzesreferenden in jenen Fällen abzuschaffen oder durch fakultative zu ersetzen, in denen die Vorlagen im Kantonsparlament mit einem grossen Mehr durchgekommen seien.

«Direktdemokratischer Organisationsgrad»

Was eine alte von einer neuen Direktdemokratie unterscheide, sei auch der «direktdemokratische Organisationsgrad», sagt Serdült. Deshalb sei es so schwierig, die quantitativen Hürden richtig einzuschätzen. Gerade in Staaten mit einer kommunistischen Vergangenheit sei es nicht selbstverständlich, in wenigen Jahren eine zivilgesellschaftliche Basis mit Parteien, Verbänden, Vereinswesen und Ähnlichem zu schaffen.

Im fakultativen Referendumsbereich (Gesetzesebene) können in Slowenien 40’000 Stimmbürger oder die Mehrheit der kleinen Parlamentskammer ein Referendum auslösen. Kritisiert wird aber, dass in der grossen Kammer mit 90 Sitzen bereits 30 Parlamentarier eine solche Volksabstimmung verlangen können.

Eigentlich sollten mit diesem «Sperr-Drittel» Minderheiten geschützt werden. Doch viele Slowenen denken, dass populistische Politiker diese tiefe Schwelle für ihre Zwecke ausnützen, womit sie die Effizienz der Regierungsarbeit schmälere.

Slowenien hat rund 2 Mio. Einwohner. In der Schweiz mit 5 bis 6 Mio. Stimmberechtigten liegt diese Hürde bei 50’000 resp. 8 (von 26) Kantonen, ist also in Zahlenrelationen viel niedriger. Noch verstärkt werde gemäss Serdült diese niedrige Schwelle durch den Umstand, dass es in der Schweiz vergleichsweise einfach falle, schnell viele Unterschriften zu sammeln.

Erstens wegen der Routine der politischen Akteure, ihrer zivilgesellschaftlichen Netzwerke, ihrer Nähe zu den Medien, und zweitens wegen dem Umstand, dass «jeder auf der Strasse vor dem Supermarkt schnell noch unterschreiben» könne, ohne sich ausweisen zu müssen. In Bayern (zum Beispiel müsse man sich auf der Gemeindekanzlei ausweisen (sog. Amtseintragung), bevor man seine Unterschrift gibt (wird sukzessive gelockert, weil direkte Demokratie in Deutschland auf Länder- und Gemeindeebene im Aufwind ist).

Verfassungsgericht ja oder nein?

Während Slowenien ein Verfassungsgericht kennt, darf in der Schweiz das höchste Bundesgericht national keine verfassungsbezogenen Urteile aussprechen.

Bisher sei in der Schweiz die Initiativen durch Parlamentarier auf ihre Verfassungsmässigkeit kontrolliert worden, sagt Serdült. «Nähme das Parlament mit seinen Gesetzgebungs-Profis seine Verantwortung wahr, würde dies genügen.» Nur sei das in letzter Zeit weniger der Fall gewesen. Früher jedoch habe man Initiativen für ungültig erklärt. «Heute jedoch wird dies ungern gemacht, weil es zur Zeit populär ist, dass das Volk immer recht und das letzte Wort hat.»

Doch auch eine direkte Demokratie brauche Schranken, wie sich gezeigt habe, so Serdült. In der Schweiz sei nun ein Kompromiss im Gespräch, in Form einer Vorprüfung oder Empfehlung.

Auch in der Schweiz brauchte es seine Zeit, bis das direktdemokratische Instrumentarium stand.

So kannte die Verfassung von 1848 noch kein fakultatives Gesetzes-Referendum (freiwillig mögliche Abstimmung der Bürger über ein vom Parlament bereits beschlossenes Gesetz).

Erst die Verfassung von 1874 brachte dieses Volksrecht. Damit endete für das Parlament (National- und Ständerat) die Macht, ohne das Risiko von Abstimmungs-Niederlagen Gesetze zu beschliessen.  

Ein etwas gelassener Umgang mit dem Verlieren von Sachabstimmungen wäre, so Serdült, sicher auch etwas, was die neuen Demokratien in Südamerika oder Mittelosteuropa von der alten Schweizer Demokratie lernen könnten.

In der Schweiz hätten die Politiker eine dickere Haut als im Ausland. Ein Bundesrat werde in Sachfragen «desavouiert», ohne gleich grundsätzlich sein Gesicht zu verlieren. Die Bürde verteile sich entweder auf den Gesamtbundesrat oder auf die Partei.

«In der Schweiz ist es gang und gäbe, dass Politiker Sachabstimmungen verlieren. Ja, es ist sogar umgekehrt: Grossen Würfe wie Frauenstimmrecht, AHV, Mutterschaftsversicherung oder Proporzwahlrecht brauchten vor dem Volk mehrere Anläufe.»

Einige in der Schweiz gemachte Abstimmungen könnte man nicht mehr in derselben Weise durchführen, würde das Land der EU beitreten, sagt Serdült.

«Aber die Anzahl ist für mich eigentlich nicht entscheidend. Über gewisse Themen wie das Budget des Bundes dürfen wir ja ohnehin nicht abstimmen, obwohl dies auf Gemeindeebene zulässig ist.»

Direktdemokratie muss anderseits aber konstant sein. Werden Referenden wie in Frankreich oder Italien (besser: Schweden, Niederlande) nur selten, alle paar Jahre durchgeführt, erhielten sie oft den Charakter von Plebisziten.

Man sei dann gegen den Vorschlag, weil man der Regierung eins auswischen möchte, und nicht weil man wirklich gegen diesen Vorschlag wäre. Serdült verweist auf die Erfahrungen mit EU-Abstimmungen, von denen viele einen solchen Charakter angenommen hätten. «In der Schweiz kennt man das viel weniger.»

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