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Ein Richter im Dschungel der Menschenrechte

Giorgio Malinverni, der Schweizer Richter in Strassburg. swissinfo.ch

Die Beschwerdeflut am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg nimmt stetig zu. Einer, der den Pendenzenberg tagein, tagaus abtragen hilft, ist Giorgio Malinverni. Seit drei Jahren amtet er als einer der 47 Richter am EGMR.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EMRG) macht seit Längerem immer wieder Schlagzeile wegen seiner heillosen Überlastung. Ende 2009 waren fast 120’000 Fälle hängig, 57’000 neue waren hinzugekommen, 30’000 konnten bewältigt werden.

Das tönt nach sehr viel Arbeit. «Ich arbeite in der Regel acht Stunden am Tag. Arbeitet man mehr, arbeitet man nicht mehr gut», so Malinverni.

Denn der Job sei anstrengend und bestehe hauptsächlich aus Lektüre. Er zeigt auf einen Stapel Dossiers: Woche für Woche muss er Unterlagen studieren und sich für den Ausschuss und die Sektion vorbereiten, in denen er Einsitz hat. «Es ist eine einsame Arbeit», sagt Giorgio Malinverni, der sich seit weit über 35 Jahren mit dem Thema Menschenrechte befasst.

Jeder Richter arbeitet in einem Ausschuss, der alle zwei Wochen tagt und über die Zulassung der Beschwerden entscheidet. 90 Prozent würden abgewiesen, so Malinverni, sei das, weil der Kläger die Frist oder die juristischen Möglichkeiten im eigenen Land nicht eingehalten hat oder die Beschwerde schlecht begründet sei.

Zudem treffen allwöchentlich die fünf Sektionen zusammen, denen die 47 Richter zugeteilt sind. Giorgio Malinverni gehört zusammen mit acht weiteren Richtern der Sektion 1 an, die sich auch mit Fällen aus Russland befasst, dem Land, aus dem ein Drittel aller Beschwerden stammt.

Viel Knochenarbeit

«Die Sektionsarbeit gibt am meisten zu tun. Da die Dossiers in den jeweiligen Landessprachen eintreffen, auf Türkisch, Griechisch, Russisch und vielen anderen, müssen sie teilweise von Juristen in der Originalsprache gelesen und dann sorgfältig übersetzt werden.»

Das brauche Zeit. Dann werden die Urteile von den so genannten Berichterstattern vorbereitet und später in der Sektion diskutiert und mit Mehrheitsentscheid gefällt.»

Jeder der Richter nimmt zudem an rund fünf Verhandlungen in der Grossen Kammer teil, die etwa 20 Mal im Jahr tagt. Die Anhörungen sind öffentlich, die Beschlüsse werden unter Ausschluss der Öffentlichkeit gefällt.

Unnötig belastet wird der EMRG mit zahlreichen Wiederholungsfällen. «Dies sollte eigentlich nicht geschehen», sagt Malinverni. Repetitive Fälle gebe es vor allem aus Staaten, die noch nicht lange der Konvention für Menschenrechte angehörten.

«Es sind vor allem osteuropäische Länder, die keine Lehren aus den ersten Gerichtsurteilen gezogen haben.» Eigentlich müssten diese Staaten ihre Gesetze oder Praxis anpassen, was oft nicht geschehe.

Reformierung auf Kurs

Mit der Inkrafttretung des Zusatzprotokolls 14, das Russland als letztes der 47 Europaratsmitglieder anfangs Februar ratifiziert hat, dürfte sich die Lage verbessern. Es soll die Richter in Strassburg entlasten und die Verfahren beschleunigen.

Laut dem Schweizer Richter können repetitive Fällen nun von drei Richtern und nicht wie bisher von sieben behandelt werden. «Denn die Rechtssprechung ist ja bekannt.» Und die Zulassung von Beschwerden werde neu von einem Richter statt von drei bearbeitet. «Mit dem Protokoll 14 kann die Effizienz des EMRG um rund 25 Prozent gesteigert werden», schätzt Malinverni.

Die Entlastung und Reformierung des Strassburger Gerichts ist auch Thema einer Ministerkonferenz in Interlaken, die am 18. Und 19. Februar unter dem Europaratsvorsitz der Schweiz über die Bühne geht.

Gericht für 800 Millionen Menschen

Das Gericht müsse sich wieder auf wichtige, gravierende Fälle konzentrieren. Zu den schweren Menschenrechts-Verletzungen gehören laut Malinverni solche gegen das Recht auf Leben, Folter und Misshandlung, Sklaverei und Zwangsarbeit oder willkürliche Verhaftungen.

Bis vor kurzem wurden die Fälle chronologisch behandelt, seit einem halben Jahr werden Prioritäten gesetzt. Auch wenn die Kläger betagt sind, können die Fälle vorgezogen werden.

Unantastbar bleibt für Malinverni die Individualklage. «Es gibt Stimmen, die sagen, man könne es wie im obersten US-Gericht machen, welches jene Fälle auswählt, die aus juristischer Sicht interessant sind. Das wollen wir nicht.»

Denn jeder der 800 Millionen Menschen aus den 47 Europaratsstaaten solle Zugang zum Gerichtshof haben. «Für viele Kläger ist der Menschenrechts- Gerichtshof praktisch die einzige Möglichkeit, ihren Fall vor ein unabhängiges und unparteiisches Gericht zu bringen.»

Auch die Schweiz steht am Pranger

Um der Beschwerdeflut Herr zu werden, könnte auch eine Erhöhung der Richterzahl in Erwägung gezogen werden. Das findet der 68-jährige Tessiner allerdings keine gute Lösung. Erstens würde dies Mehrkosten bedeuten, und zudem «wäre das problematisch für die Einheit der Jurisprudenz».

Denn bereits jetzt gebe es in den fünf Sektionen ab und zu verschiedene Urteilsansätze für ähnliche Fälle. «Widersprüche darf es nicht geben. Deshalb kontrolliert der Ausschuss für Rechtssprechungs-Konflikte alle Urteile, bevor sie gesprochen werden.»

Nicht gerade Alpträume, aber doch Kopfzerbrechen bereitet dem Richter die Ende November vom Schweizer Stimmvolk angenommene Anti-Minarett-Initiative. Bislang sind dagegen vier Klagen in Strassburg eingetroffen. «Im Moment befinden wir uns in der Phase der Kommunikation gegenüber der Schweizer Regierung, die sich dann äussern kann.» Klar ist, dass dieser Volksentscheid das Gericht noch lange beschäftigen wird.

Dass das Volk nicht immer Recht hat, sondern auch Entscheide fällen kann, die gegen Grundrechte verstossen, hat Malinverni schon mehrmals geäussert. In diesem laufenden Verfahren über das Minarett-Bauverbot will er zu dieser Frage aber keine Stellung nehmen.

Gaby Ochsenbein, Strassburg, swissinfo.ch

Geboren am 3. Oktober 1941 in Domodossola (Italien).

Er ist Schweizer Bürger mit Heimatort Locarno.

Er war ab 1974 Professor für Verfassungsrecht, Internationales Recht und internationale Menschenrechte an der Universität Genf.

2006 wurde er von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats zum Richter der Schweiz am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gewählt.

Er trat seine Tätigkeit in Strassburg Mitte Januar 2007 an.

Der 1959 gegründete Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg überprüft Verletzungen der Europäischen Menschenrechts-Konvention.

Der EGMR ist die letzte Instanz für die mehr als 800 Millionen Bürger der 47 Mitgliedstaaten des Europarats.

Jedes Mitglied verfügt über einen Richtersitz im EGMR.

Die offiziellen Sprachen sind Englisch und Französisch. Die Beschwerden können in den jeweiligen Landessprachen eingereicht werden.

Das Budget 2009 belief sich auf 56 Mio. Euro.

Der EGMR ist mit einer wachsenden Flut von Klagen konfrontiert: 2009 gingen über 57’000 Klagen ein, das sind 15% mehr als im Vorjahr. Der Pendenzenberg stieg auf 119’300.

Knapp 30% der Beschwerden stammen aus Russland, gefolgt von der Türkei.

Aus der Schweiz sind 471 Fälle hängig. Vier davon betreffen die Anti-Minarett-Initiative.

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