Eine neue Identität zum Schutz vor Rache
Menschenhandel, Terrorismus, organisierte Kriminalität: Oft können Täter nicht bestraft werden, weil die Zeugen aus Angst vor Racheakten keine Aussage machen. Die kleine Parlamentskammer hat nun ein Gesetz angenommen, das den Zeugenschutz verbessern soll.
Wer in einem Prozess gegen Menschenhändler oder andere kriminelle Organisationen eine Aussage macht, muss damit rechnen, von den Tätern und ihren Helfern bedroht oder gar beseitigt zu werden. Deshalb wagen viele Zeugen und Opfer nicht, eine Aussage zu machen.
In der Schweiz müssen bis heute die Kantone den Schutz der Zeugen gewährleisten. Sie tun dies unterschiedlich. «Bis jetzt gab es noch keine eigentlichen ausserprozessualen Zeugenschutzprogramme in der Schweiz. Die gesetzliche Grundlage dazu fehlte», sagt Andreas Leuzinger vom Bundesamt für Polizei (fedpol). Mit der Vorlage, die der Ständerat (kleine Parlamentskammer) in dieser Woche angenommen hat, soll diese Grundlage geschaffen werden.
«Wichtig wird diese Frage in Prozessen gegen Menschenhändler aber auch in Verhandlungen im Bereich der organisierten Kriminalität, wie etwa gegen Drogen- und Waffenhändler oder im Terrorismus», sagt Leuzinger.
Ohne Kooperation läuft nichts
«In Fällen von schwerer Bedrohung des Zeugen kann die Identität geändert und die Person sogar in einem anderen Land untergebracht werden.» Dies sei in Fällen nötig, in denen es nicht möglich sei, jemanden in der Schweiz unauffällig leben zu lassen, zum Beispiel aufgrund der Hautfarbe oder der ethnischen Zugehörigkeit.
Es können sowohl schweizerische Staatsbürger als auch ausländische Staatsbürger in ein Programm aufgenommen werden. Auch die engsten Angehörigen eines bedrohten Zeugen können ins Programm aufgenommen werden, auch Kinder. Die Identität zu wechseln bedeute, sagt Leuzinger, alles hinter sich zu lassen und nie mehr Kontakt mit seinen Freunden zu haben.
Der Beitritt in ein künftiges ausserprozessuales Zeugenschutzprogramm wird vom zuständigen Staatsanwalt während des Prozesses beantragt, aber die betroffene Person muss freiwillig mitmachen. «Es können nur Leute in ein Zeugenschutzprogramm eintreten, die mit den zuständigen Behörden zusammenarbeiten», sagt Leuzinger.
Personen, die vor Gericht ihre Aussage verweigern oder keine Angaben machen, die substanziell zur Aufklärung eines strafrechtlich relevanten Delikts dienen, werden nicht aufgenommen. Wenig Chancen haben auch Leute, die selbst kriminelle Handlungen begangen haben.
Wer nicht kooperiert oder sich nach dem Eintritt in ein Programm nicht an die Verhaltensregeln hält, wird aus dem Programm entlassen, weil sonst die Sicherheit nicht gewährleistet werden kann.
«Es ist schon vorgekommen, dass jemand, der unter Zeugenschutz eine andere Identität angenommen hat, sowohl unter seinem alten als auch unter seinem neuen Namen ein Facebook-Profil eingerichtet hat.» In solchen Fällen sind die für den Schutz zuständigen Stellen machtlos. «Freiwillig aus einem Programm austreten kann man jederzeit», sagt Leuzinger.
Zeugenschutzstelle geplant
Wenn das Gesetz auch vom Nationalrat (grosse Parlamentskammer) angenommen wird, soll der Bund eine zentrale Zeugenschutzstelle einrichten. Dort werden rund 10 spezialisierte Leute arbeiten, sagt Leuzinger. Die Stelle würde einerseits die notwendigen Abklärungen im In- und Ausland übernehmen und auch die Kantone im Umgang mit den weniger schweren Fällen beraten.
Denn: «Zeugenschutz bedeutet nicht in jedem Fall, dass die Person eine neue Identität erhält. In den weniger schweren Fällen genügt es, wenn die Person während des Prozesses überwacht wird oder wenn nur der Name und der Wohnort geändert werden», sagt Leuzinger.
Zudem würde die Zeugenschutzstelle für Personen in einem Zeugenschutzprogramm Verhaltensberatung für fast alle Lebensbereiche anbieten, sagt Leuzinger. In der Schweiz wird mit 10 bis 15 Fällen pro Jahr gerechnet, bei denen die Aufnahme in ein Programm nötig ist. Pro Fall können mehrere Personen betroffen sein.
Manchmal sei gar nicht der Zeuge selbst am meisten bedroht, sagt Leuzinger. «Die Angehörigen im Heimatland sind oftmals einer grösseren Bedrohung ausgesetzt, wenn jemand in der Schweiz gegen Menschenhandel aussagt.» Die Schweiz arbeite deshalb schon jetzt mit ausländischen Dienststellen und lokalen Behörden zusammen, damit die Angehörigen auch geschützt werden können.
Laut Andreas Leuzinger kann mit dem neuen Gesetz zum ausserprozessualen Zeugenschutz die Aufklärung von schweren Straftaten durch die Aussagebereitschaft und Aussagefähigkeit eines Zeugen gezielter sichergestellt werden.
Der Bundesrat legte der kleinen Kammer eine Konvention über die Bekämpfung des Menschenhandels zusammen mit dem Bundesgesetz über den ausserprozessualen Zeugenschutz vor.
Die Konvention des Europarates, an deren Ausarbeitung die Schweiz aktiv mitgearbeitet hat, setzt rechtliche Standards in den Bereichen Strafrecht, Opferhilfe, Ausländerrecht sowie prozessualem als auch ausserprozessualen Zeugenschutz.
Diese Gesetzesänderung ist die Voraussetzung dafür, dass die Schweiz das Europarats-Übereinkommen gegen Menschenhandel unterzeichnen kann.
Bis zum Inkrafttreten des neuen Gesetzes – falls es vom Nationalrat auch angenommen wird, gilt es ab dem ersten Januar 2013 – wird der Zeugenschutz wie bis anhin von den Kantonen geregelt.
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