«Fukushima strahlt bis Baden-Württemberg»
Die Schweizer Presse ist der Meinung im wirtschaftlich mächtigen deutschen Bundesland Baden-Württemberg habe sich eine Zeitenwende abgespielt. Nach 58 Jahren Stammland der Christdemokraten übernimmt eine grün-rote Regierung das Ruder.
Selten seien Wahlen so sehr durch eine aktuelle Stimmung geprägt gewesen wie die beiden Landtagswahlen in Baden-Württemberg und in Rheinland-Pfalz, kommentiert die Basler Zeitung(BaZ) die Wahlen im grössten Bundesland nördlich der Schweiz, und titelt: «Fukushima strahlt bis Baden-Württemberg».
Nach dem Debakel im japanischen AKW sei selbst den früheren Befürwortern die Lust an der Atomkraft vergangen, und die Grünen hätten dank ihres konsequenten Anti-Atom-Kurses die politische Dividende aus diesem Meinungsumschwung eingestrichen.
«Die gestrigen Wahlen wurden im Vorfeld als ‹kleine Bundestags-Wahl› bezeichnet (…): Die Atompolitik der Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde als unglaubwürdig entlarvt.» In Baden-Württemberg stehen vier AKW.
Ähnlich wie die BaZ titelt auch die Neue Zürcher Zeitung(NZZ): «Die Grünen im Strahlenglanz». Es sei die Kernkraftdebatte, die den Wechsel zu Grün und Rot herbeigeführt habe, obschon die bürgerliche Politik bereits wegen dem Bahnhofprojekt «Stuttgart 21» einige Risse erhalten hätte.
Die Kernenergie sei seit Jahrzehnten in Deutschland umstritten. Ein Ausstieg sei nun wesentlich wahrscheinlicher geworden. Nach 58 Jahren sei der Machtverlust für die CDU bitter, sei es doch diese Partei, «die aus Baden-Württemberg ein deutsches Musterland gemacht hat».
Nur habe sie aus dieser Tradition einen automatischen Anspruch auf die Führung hergeleitet: Der scharfe antigrüne Wahlkampf von Ministerpräsident Stefan Mappus sei deshalb sehr riskant gewesen – «erst recht, als der japanische Tsunami eine der Säulen bürgerlicher Politik einriss».
Von «Défaite historique» (historischer Niederlage) spricht die Westschweizer Zeitung Le Temps und gibt gleichzeitig auch die Niederlage einer der Siegerparteien in Zahlen an: Die Grünen stellten neu mit einem Anteil von 24% (+12,5) der Abgeordneten mehr als die Sozialdemokraten mit 23,1% (-2).
«Der Anfang von Merkels Ende»
So titelt der Zürcher Tages-Anzeiger: «Während Grüne und Sozialdemokraten ihren Sieg feiern, stehen die Christdemokraten vor einem Scherbenhaufen – allen voran die CDU-Vorsitzende.» Seit sie in Berlin in eine zweite Amtszeit gestartet sei, gelinge ihr kaum mehr etwas. Sie fahre einen permanenten Schlingerkurs. Zuerst für, dann gegen Steuersenkungen. Zuerst kein Euro-Geld an europäische Pleitekandidaten, dann Milliarden. Zuerst «Verlängerung der Laufzeiten der teils überalterten deutschen AKW», dann – nach Fukushima – Verbot.
Eine solche Politik schrecke nicht nur Wechselwähler ab, sie stifte auch bis tief ins christdemokratische Milieu hinein Verunsicherung. «Gleichwohl muss sie jetzt rasch handeln. Die schwarz-gelbe Regierung braucht in Programm, eine Idee und einen festen Kurs.»
Doch bis jetzt sei nicht absehbar, wie ihr dies gelingen soll – «zumal der Koalitionspartner FDP ebenfalls an Schwindsucht leidet». Es könne gut sein, dass Historiker einst das CDU-Desaster von Baden-Württemberg als Anfang vom Ende der ersten deutschen Kanzlerin identifizieren.
«Jetzt kommt der erste Grünen-Ministerpräsident Deutschlands», schreibt die Boulevardzeitung Der Blick. «Ausgerechnet in Baden-Württemberg, wo die CDU fast 60 Jahre an der Macht war.» Der Verlust sei ein schwerer Schlag für Angela Merkel. Sie verliere damit nach Nordrhein-Westfalen und Hamburg binnen eines Jahres den dritten CDU-Regierungschef.
Auch Der Blick sieht die Schwäche der SPD: «Sie rutschte auf ihr schwächstes Ergebnis in Baden-Württemberg ab, kann sich aber dennoch Hoffnungen auf eine Regierungsbeteiligung machen.»
Atom als Wahlkampfthema
«Das Erdbeben aus Japan schlägt auch in Deutschland und der Schweiz zu», schreibt die Freiburger La Liberté. Sie schlägt die Brücke von Japan nach Baden-Württemberg, Baselland und darüber hinaus auf die Parlamentswahlen in der Schweiz, die diesen Herbst stattfinden.
«Ein ‹Ecolo›-Ministerpräsident an der Spitze des industriellen Herzlandes Deutschlands – das wäre sowohl historisch einmalig als auch äusserst symbolisch.» La Liberté kommentiert, die jüngste Wende von Angela Merkel, die einen schnellen Ausstieg aus der Nuklearenergie forderte, habe wohl ungewollt vor allem die Kohärenz der Politik der Grünen bekräftigt und dafür ihre konservative CDU-Wählerschaft verunsichert.
Die bürgerlich-liberale Koalition (CDU-CSU und FDP) habe keine Mehrheit mehr auf nationaler Ebene (also in der deutschen Länderkammer Bundesrat, dem ‹deutschen Ständerat›). Und Merkel müsse noch zwei Jahre bis zu den nächsten Wahlen ausharren. «Wird sie es schaffen?»
«In Deutschland sind die Geigerzähler ausverkauft»
«Die Anti-AKW-Demonstration am Samstag war die grösste, die es in Deutschland je gab», schreibt die Luzerner Zeitung. «Die Geigerzähler sind ausverkauft», und die atomare Katastrophe in Japan habe den Ausschlag für den Machwechsel in Baden-Württemberg gegeben.
Der Erfolg der Grünen wurzle letztlich darin, dass sie derzeit die einzige Partei seien, die ein klares Profil habe. Japan habe dies lediglich «herausgeschält». Und die «erstarrte SPD» müsse zur Kenntnis nehmen, dass ihr die neue grüne Volkspartei den Boden unter den Füssen wegnehme, auf dem sie trotzig stampfe.
Nach den Wahlen im Baselbiet (Kanton Basel-Land) verliert die Schweizerische Volkspartei (SVP) zwar den Sitz in der Regierung, wird aber stärkste Kraft im Parlament.
Mit Isaac Reber gewinnt zum ersten Mal ein Grüner einen Sitz in der Regierung. Regierungsrat und Baudirektor Jörg Krähenbühl (SVP) ist abgewählt worden.
Das habe sich zu Beginn des Wahlkampfs wohl höchstens einer vorstellen können: Reber selber, so kommentiert die Basler Zeitung am Montag. Die BaZ vermutet, dass den Ausschlag für die Abwahl von Krähenbühl «wohl weniger sein Auftreten als sein Parteibüchlein gab».
Die SVP sei zwar stark, auch bei den Landratswahlen habe sie wieder zugelegt, mehrheitsfähig sei sie aber weiterhin nur in Einzelfragen.
«Die Vorbehalte gegen ihren aggressiven Stil sind weit verbreitet (…). Dass sie nun ausgerechnet der freundliche Krähenbühl zu spüren bekommt, muss ihm wie bittere Ironie vorkommen», schreibt die BAZ.
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