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«Ein Schock für die lokale Demokratie»

Die Altstadt von Aarau aus der Luft fotografiert
Ein gutes Beispiel: Durch die Beibehaltung von zwei getrennten Wahlkreisen bei den ersten Kommunalwahlen nach der Fusion von Aarau und Rohr 2010 konnte eine Untervertretung der kleineren ehemaligen Gemeinde vermieden werden, wie dies ohne diese Massnahme in der Regel der Fall gewesen wäre. Keystone

Tiefere Stimmbeteiligung sowie lokale Bewegungen und parteilose Abgeordnete, die sich aus der politischen Szene verabschieden, dafür eine grössere Auswahl an Kandidaten bei Wahlen: Gemeindefusionen haben auch Auswirkungen auf die Demokratie. Dieser Aspekt wird jedoch bei Fusionen von Gemeinden bisher vernachlässigt.

Schweizer Gemeinden in Zahlen

Seit dem 1. Januar 2018 gibt es in der Schweiz noch 2222 Gemeinden, 33 weniger als ein Jahr zuvor.

1848, bei der Gründung der Schweiz, waren es 3205 gewesen, eine Zahl, die während fast eines Jahrhunderts stabil blieb.

1995 zählte die Schweiz erstmals weniger als 3000 Gemeinden. Seit dann beschleunigte sich der Fusionsprozess: In den letzten zehn Jahren sind fast 500 Gemeinden verschwunden.

Und auch in den kommenden Jahren wird es zu weiteren Gemeindefusionen kommen.

Gemeindefusionen sind eine der wichtigsten Veränderungen auf der schweizerischen Verwaltungsebene in den letzten Jahrzehnten. Die bisher spektakulärste Fusion fand im Kanton Glarus statt. Gemäss dem Wunsch der dortigen LandsgemeindeExterner Link, der traditionellen Urform der Demokratie, wo sich das Stimmvolk auf einem Platz versammelt und per Handzeichen abstimmt und wählt, wurden 2011 aus den 25 Gemeinden des Kantons noch deren drei.

Auch wenn im Rest des Landes keine derart «brutalen» Gemeindefusionen stattgefunden haben, bleibt die Tatsache, dass dieses Phänomen voranschreitet und in einigen Kantonen eine starke Fusionspolitik betrieben wird.

Dabei geht es im Wesentlichen um folgende Punkte: Effizientere Strukturen, Professionalisierung der Dienstleistungen und Einsparen von Kosten. Es sind also primär administrative und finanzielle Überlegungen, die zwei oder mehr Gemeinden dazu bringen, sich für eine gemeinsame Zukunft zu entscheiden.

Die politisch-demokratischen Auswirkungen allerdings hat bisher kaum jemand hinterfragt. Zu Unrecht, denn sie spielen sehr wohl eine Rolle, wie Studien des Zentrums für Demokratie AarauExterner Link (ZDA) gezeigt haben.

Durchgeschüttelt

«Die Fusion von zwei oder mehr Gemeinden ist ein Schock für die lokale Demokratie», sagt Daniel KüblerExterner Link, Direktionsmitglied des ZDA und Professor an der Universität Zürich. Der Schock sei für kleine Gemeinden, die sich grösseren anschliessen würden, stärker.

In den Gemeinden «funktionieren lokale politische Netzwerke. Diese werden durch eine Fusion zerschlagen: Sie müssen sich neu organisieren, weil sie sich in einer Gemeinschaft wiederfinden, die plötzlich grösser geworden ist und wo die politischen Netzwerke der anderen Gemeinden dazugekommen sind, mit denen sie keine Beziehungen pflegten», so Kübler.

Daniel Kübler a mezzo busto.
Daniel Kübler, Professor für Demokratieforschung und Public Governance an der Universität Zürich, ist Direktionsmitglied des Zentrums für Demokratie in Aarau (ZDA). Stefan Walter, UZH News

Solche Netzwerke haben verschiedene Funktionen: Grundsätzlich sorgen sie dafür, dass Informationen verbreitet werden und das Stimm- und Wahlvolk mobilisiert wird, so der Politologe. Daraus folgen bei Fusionen zwei Konsequenzen, wie Studien des ZDA gezeigt haben.

Weniger Teilnehmende

Die erste Konsequenz ist eine tiefere Stimm- und Wahlbeteiligung bei kommunalen Urnengängen. Die zweite ist, dass Vertreter lokaler Bewegungen oder Parteilose geringere Wahlchancen haben. Profitieren davon können die Kandidaten der etablierten Parteien.

«Auch die Tatsache, dass in der aus einer Fusion entstandenen Gemeinde mehr politische Vertreterinnen und Vertreter aus der ehemals grösseren Gemeinde stammen, hat vermutlich mit der Destabilisierung der Mobilisierungs-Netzwerke zu tun», sagt Kübler. Auch sei das Elektorat der kleineren Gemeinde weniger zur Teilnahme geneigt, weil es sich weniger mit der durch die Fusion entstandenen Gemeinde identifiziere.

Mehr Kandidierende

Der Rückgang der Stimm- und Wahlbeteiligung ist zweifellos ein negativer Effekt. Positiv allerdings ist ein anderes Phänomen, wie die Studien des ZDA zeigen: Nach Fusionen steigt die Anzahl Kandidierender für einen Sitz im Gemeindeparlament. «Das bedeutet, dass die Wählerschaft eine grössere Auswahl hat», so der Experte.

Die Forscher wissen aber nicht, ob die Tatsache, dass politische Mandate meist an Mitglieder kantonaler Parteien gehen, die Demokratie stärkt oder nicht. Ziemlich sicher hingegen ist, dass dies nicht die einzigen Auswirkungen kommunaler Fusionen auf die lokale Demokratie sind. Es reicht dabei, an Gemeinden zu denken, in denen es eine Gemeindeversammlung gab, während es in der fusionierten Gemeinde ein Parlament gibt oder umgekehrt.

Risiken prüfen

Laut dem Politologen ist es wichtig, dass die möglichen Konsequenzen einer Fusion auf die lokale Demokratie schon von Beginn des Nachdenkens über eine Zusammenlegung weg sorgfältig geprüft werden.

«Wir müssen uns bewusst sein, dass das Risiko eines Schocks für die lokale Demokratie besteht, und dieses Bewusstsein ist ein erster Schritt auf dem Weg zur Lösung», so Kübler weiter. Werde diese Frage vertieft geprüft, könne man Massnahmen ergreifen, «um die negativen Auswirkungen zu kompensieren oder gegen diese vorzugehen».

Als Beispiel erwähnt er die Fusion zwischen der Gemeinde Rohr und der Stadt Aarau im Kanton Aargau. Bei der ersten Wahl für das neue Gemeindeparlament behielt man die beiden ehemaligen Wahlkreise bei. So konnte dem neuen Aarauer Stadtquartier Rohr eine bestimmte Anzahl von Sitzen garantiert werden.

«Bei den nächsten Wahlen gab es keine separaten Wahlkreise mehr, aber in der Zwischenzeit konnten neue Beziehungsnetze geknüpft werden», so Kübler. Besonders jene zwischen den ehemaligen unabhängigen Abgeordneten aus Rohr und der Bewegung Pro Aarau, einer Gruppe Unabhängiger, die in der ehemaligen Gemeinde Aarau tätig war.

Gutes Instrument

Für den Politologen sind die separaten Wahlkreise ein gutes Instrument, um die Integration der Bewohner der kleineren Ex-Gemeinden und deren Zugang zu politischen Ämtern zu begünstigen. Er weist aber darauf hin, dass nicht alle Kantone dies zulassen.

Eine wichtige Rolle, um die Integration zu erleichtern, komme auch den Parteien der ehemals grösseren Gemeinde zu: Hauptsächlich seien diese dafür verantwortlich, ihren Einfluss in den Parteisektionen der kleineren an der Fusion beteiligten Gemeinden geltend zu machen oder dort neue Sektionen zu gründen, falls noch keine existierten, so Kübler.

Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit

Die Ergebnisse der ZDA-Studien zeigen, dass «sich die Demokratie, auch auf lokaler Ebene, nicht von selbst versteht. Damit sie funktioniert, braucht es das Engagement der verschiedenen politischen Akteure, der Bevölkerung, der Eliten und ein gewisses Mass an Freiwilligkeit», so der Experte.

Für Kübler ist es deshalb zentral, dass bei Gemeindefusionen auch die Auswirkungen auf die lokale Demokratie angeschaut werden müssten. So könne ein Bewusstsein einerseits über die Folgen einer Fusion auf lokaldemokratischer Ebene entstehen. Andererseits darüber, dass es konkrete Schritte brauche, um die Qualität der Demokratie aufrecht zu erhalten. «Dies wäre für das Funktionieren der Demokratie in der Schweiz auf allen Ebenen ein Vorteil», schliesst Kübler.

Aarauer Demokratietage

Das Thema politischer Auswirkungen von Gemeindefusionen wird an den 10. Aarauer DemokratietagenExterner Link vertieft. In diesem Rahmen findet am 1. März in Baden die Podiumsdiskussion «Gemeindefusionen – Chance oder Gefahr für eine lebendige Demokratie?»Externer Link mit Experten statt, darunter auch Daniel Kübler.

An den Aarauer Demokratietagen werden aktuelle politische Fragen angesprochen und diskutiert. Die jährlich wiederkehrende Veranstaltung richtet sich an Personen aus Wissenschaft, Politik, Medien und an die Öffentlichkeit.

Die Aarauer Demokratietage werden durch das ZDA organisiert. Beide feiern in diesem Jahr ihr zehnjähriges Bestehen. Zur Feier wird eine Art «Road Tour» durch den Kanton Aargau veranstaltet, um das Forschungszentrum besser bekannt zu machen.

#DearDemocracy, die swissinfo.ch-Plattform über direkte Demokratie, ist Medienpartnerin der Aarauer Demokratietage.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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