«Internationale Strafjustiz muss sichtbarer werden»
Während 15 Jahren hat die Nachrichtenagentur Hirondelle täglich über die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofes für Ruanda berichtet. Jetzt lanciert die Stiftung mit Sitz in Lausanne ein Internetportal für internationale Justiz.
Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (TPIR) hat seine Arbeit in erster Instanz beendet. Hängig sind noch rund 15 Fälle, in denen Verurteilte das Urteil angefochten haben. Ende 2014 folgt dann die Auflösung des Tribunals. Dieses war vom UNO-Sicherheitsrat zur Aufarbeitung des Genozids von April 1994 geschaffen worden.[cr1]
Journalisten von Hirondelle News berichteten seit 1997 täglich über die Prozesse in Arusha im Norden Tansanias. Eine Arbeit, die Früchte trage, sagt Jean-Marie Etter, Generaldirektor der Stiftung.
Kontaktiert via Facebook, haben sich Ruanderinnen und Ruander teils sehr kritisch zum Tribunal geäussert. Viele sprachen von einem «Scheitern», weil das Gericht nicht die nötigen Untersuchungen durchgeführt habe, um alle Hintergründe des Massakers von 1994 ans Tageslicht zu bringen.
«Das Gericht hat enorme Geldsummen verschlungen, um schliesslich eine lächerlich kleine Zahl von Personen zu verurteilen», schrieb ein swissinfo.ch-Leser.
«Die internationale Strafjustiz hat ihre Mission verfehlt, den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen», schrieb ein anderer. «Einige anerkannte Völkermörder wurden ohne ersichtliche Gründe freigesprochen. Auch gab es weder Entschädigungen noch Wiedergutmachungen für die Opfer.»
Jene, welche die «internationale Strafjustiz als Justiz der Sieger» denunzieren, sprechen von einem «doppelten Genozid»: Die Sieger hätten über die Unterlegenen geurteilt, um die eigenen Interessen und die Macht zu verteidigen, wie ein anderer Leser schrieb.
Knapp 20 Jahre nach dem Horror sind viele überzeugt, dass die ruandische Tragödie noch zahlreiche dunkle Flecken aufweist. «Wieso wurden die Schüsse auf das Flugzeug des Präsidenten nicht untersucht, die den Genozid ausgelöst hatten?», fragt ein Leser.
swissinfo.ch: Wie lautet Ihre Bilanz über die 15 Jahre «Hirondelle News im Dienste der Gerechtigkeit»?
Jean-Marie Etter: Unser Ziel war es, die Arbeit des internationalen Tribunals für die Bevölkerung Ruandas verständlich zu machen. Diese hatte manchmal Probleme mit dem Umstand, dass die Beschuldigten des Genozids im Ausland und von ausländischen Richtern beurteilt werden. Erschwerend kam hinzu, dass die Regierung Ruandas sämtliche Informationen über das Töten einer strikten Kontrolle unterzog.
Angesichts dieser Umstände sind die Resultate bemerkenswert. Nicht nur der nationale Radiosender Ruandas, sondern die schreibende Presse, die Privatsender wie auch die Medien in den benachbarten Staaten haben sich grösstenteils auf die Berichte der Stiftung Hirondelle gestützt.
swissinfo.ch: War es in der täglichen Arbeit einfach, den Graben zwischen Tätern und Opfern, also zwischen Hutus und Tutsis, zu überwinden, der das Land auch nach knapp 20 Jahren noch teilt?
J.-M.E.: Wir konnten auf ein Team sehr kompetenter Journalisten zählen, das Tutsis und Hutus vereinte. Ihnen war bewusst, dass jedes Komma grösste Auswirkungen haben könnte, weshalb sie die Arbeit des TPIR extrem gewissenhaft und faktenorientiert begleiteten. So konnte die Agentur nicht nur den Graben intern überwinden, sondern auch die volle Anerkennung der Diplomatie und der Wissenschaft gewinnen, die teils selbst gespalten sind.
swissinfo.ch: Gab es Druckversuche oder Zensur seitens der ruandischen Regierung auf Ihre Journalisten?
J.-M.E.: Die Behörden haben ein paar Mal Berichtigungen verlangt. Waren sie gerechtfertigt, haben wir sie akzeptiert. Oft haben wir sie aber abgelehnt.
Hirondelle hat aber nicht nur die Prozesse des TPIR in Arusha begleitet, sondern ebenso präzise und vollständig über die so genannten Gacaca berichtet (Volksgerichte in Ruanda zur Beurteilung von fast zwei Millionen Hutus, die der Teilnahme am Genozid beschuldigt waren. Sie fällten ihre Urteile bis Juni 2012, die Red.). Dabei wurden wir von den Behörden unterstützt, was wir als Anerkennung der Qualität unserer geleisteten Arbeit empfanden.
Der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda (TPIR) wurde im April 1994 vom UNO-Sicherheitsrat geschaffen.
Das Tribunal in Arusha (Tansania) ist nach jenem für Ex-Jugoslawien von 1993 das zweite solche Ad-hoc-Gericht.
1998 verurteilte der TPIR den ehemaligen ruandischen Premier Jean Kambanda zu lebenslanger Haft. Es war die erste Verurteilung wegen Genozid in der Geschichte der internationalen Justiz und die erste Anwendung der UNO-Konvention gegen Völkermord von 1948.
Das Ruanda-Tribunal verurteilte seit 1994 insgesamt 65 Personen. Nach den Berufungsprozessen wird das Gericht Ende 2014 eingestellt. 12 Beschuldigte wurden freigesprochen, fünf fanden in einem anderen Land Aufnahme.
Die Schweiz ist eines von vier Ländern, die Freigesprochene aufnahmen. Weder Verurteilte noch Freigesprochene dürfen in Tansania bleiben.
Laut UNO-Schätzungen starben beim Genozid in Ruanda zwischen dem 6. April und dem 4. Juli 1994 rund 800’000 Menschen, meist Tutsis.
(Quellen: Hirondelle News, Trial, AFP)
swissinfo.ch: Gibt es auch Negatives?
J.-M.E.: Die grösste Enttäuschung betrifft die westlichen Medien, die das Tribunal nur am Rande verfolgt haben. In der Logik des aktuellen Journalismus verkauft sich ein Genozid, zudem noch in Afrika verübt, nicht länger als einen Monat. Mit einer Prozessdauer von 15 Jahren war die Zeit der Gerechtigkeit für die Medien eine Ewigkeit.
Dies verdeutlicht folgende Episode: Zu Beginn hatten Presseleute in Arusha Mühe, im grossen Saal einen Platz zu finden. Heute kommen sich unsere Journalisten dort ziemlich einsam vor.
swissinfo.ch: Droht diesen 15 Jahren Arbeit im Dienst der Gerechtigkeit die Vergessenheit?
J.-M.E.: Keineswegs! Die Tausenden von Artikel, insbesondere in Kinyarwanda, der Landessprache Ruandas, bilden ein einzigartiges Archiv. Davon können sowohl die Generationen profitieren, die nach 1994 geboren sind, als auch die Wissenschaft.
Darüber hinaus war das Projekt von Beginn weg als spezifische Ausbildung über die Funktionsweise der internationalen Justiz gedacht. Journalisten aus der Region der Grossen Seen, Kenia, Sudan und Zentralafrika haben bewiesen, dass sie über komplexe Themen schreiben können.
Dank diesen Erfahrungen und der Unterstützung von Partnern der internationalen Gemeinschaft hoffen wir, bis Ende Jahr ein Internetportal aufschalten zu können, das als Referenz für Medienberichterstattung über internationale Justiz dienen soll.
Die Seite in mehreren Sprachen richtet sich an einfache Bürger aus betroffenen Ländern, aber auch an Experten, die rasch Informationen über den internationalen Strafgerichtshof und die Sondergerichte finden können. Denn die Arbeit der internationalen Strafjustiz braucht mehr Sichtbarkeit.
Die Stiftung aus der Westschweiz ist eine Nichtregierungs-Organisation, die von Medienleuten zusammen mit Spezialisten der humanitären Hilfe gegründet wurde.
Sie gründet und unterstützt seit 1995 in Krisengebieten unabhängige Informationsmedien.
Die Medien richten sich an die Bevölkerungen und suchen eine möglichst grosse Resonanz.
Oberstes Gebot der Hirondelle-Medien ist die Glaubwürdigkeit, die auf einem faktenorientierten Journalismus basiert. Die Stiftung selbst enthält sich jeglichen Kommentars. Einen solchen dürfen nur Journalisten aus jenen Ländern abgeben, in denen Hirondelle Medien betreibt.
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)
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