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Ist Bioethik zu komplex für die direkte Demokratie?

IVF-Embryonen auf genetische Störungen zu untersuchen, ist in der Schweiz illegal. Keystone

Künstlich erzeugte Embryonen dürfen heute in der Schweiz nicht auf Krankheiten untersucht werden, bevor sie der Frau implantiert werden. Ob sich das ändert, darüber entscheidet das Schweizer Stimmvolk am 14. Juni.  Wie informieren sich die Stimmenden über diese komplexe und emotionale Vorlage? Ein Politikwissenschaftler nimmt Stellung.

«Diese Frage lässt niemanden kalt», sagte Innenminister Alain Berset, als er sich dafür stark machte, dass es in der Schweiz künftig wie in den meisten westeuropäischen Ländern erlaubt sein soll, im Reagenzglas gezeugte Embryonen genetisch zu untersuchen, bevor sie in die Gebärmutter eingepflanzt werden. Für die sogenannte Präimplantations-Diagnostik (PID) ausgesprochen haben sich nicht nur das Parlament und die meisten politischen Parteien, sondern auch eine Mehrheit der Mediziner.

Wovon hängt bei einem emotionsgeladenen wissenschaftlichen Thema wie genetische Untersuchungen, Abtreibungen oder genetisch veränderte Nahrung der Entscheid der Stimmenden ab? Sollte die politische Kampagne eher das Herz oder den Kopf ansprechen? Welchen Einfluss haben die sozialen Medien und die Kirche auf das Abstimmungsergebnis? Darüber sprach swissinfo.ch mit Georg Lutz, Professor für politische Wissenschaft an der Universität Lausanne.

Laut Georg Lutz ist Genetik für die Stimmenden nicht komplexer als gewisse wirtschaftliche Themen. georglutz.ch

swissinfo.ch : Nehmen sich viele Schweizer die Zeit, komplexe Vorlagen vor der Stimmabgabe zu analysieren, oder verlassen sich die meisten einfach auf ihr Gefühl?

Georg Lutz: Ich denke, dass sich viele Leute auf ihr Gefühl abstützen – nicht nur bei solchen Vorlagen.

Das heisst aber nicht, dass es ein völlig willkürlicher Entscheid ist. Wichtig ist bei solchen Vorlagen, dass sie für einige Leute die Religion betreffen. Ich denke, dass die Leute eine Art Prädisposition haben: Wenn man religiös ist, glaubt man, dass die Menschen nicht zu stark in den Beginn und das Ende des Lebens eingreifen sollten.

Aber es ist zu komplex, als dass man voraussetzen könnte, dass viele Stimmende ins Detail gehen und darüber nachdenken, worum es dabei geht. Stattdessen stützen sie sich auf ziemlich generelle Prinzipien ab.

Georg Lutz ist Projektleiter der Schweizer Wahlstudie (Selects) am Forschungszentrum für Sozialwissenschaft (FORS) in Lausanne und Professor für politische Wissenschaft an der Universität Lausanne.

Promoviert hat er an der Universität Bern in politischer Wissenschaft. Seine Arbeit ist auf  politische Institutionen und politisches Verhalten sowie auf Schweizer Politik spezialisiert.

swissinfo.ch : Sind gewisse Themen zu komplex, um darüber abzustimmen?

G.L.: Das ist die grosse Frage! Man könnte sich auch die Frage stellen, ob die Leute im Allgemeinen mit der direkten Demokratie überfordert sind. Ich denke nicht, dass Präimplantations-Diagnostik schwieriger als andere Themen ist – manchmal müssen die Stimmenden beurteilen, welche Wirkung eine bestimmte Massnahme auf die künftige Wirtschaft haben wird, was auch nicht eine besonders leichte Aufgabe ist. In der Schweiz gibt es diese tiefe Überzeugung, dass die Leute im Allgemeinen in der Lage sind, solche Entscheide zu fällen, auch wenn es um ziemlich komplexe Dinge geht.

Studien zeigen, dass es grosse Unterschiede in Bezug auf das allgemeine und spezifische Wissen der Leute zu verschiedenen Themen gibt: Sachkundig ist nur eine kleine Gruppe. Aber man braucht nicht unbedingt vollständig informiert zu sein, um einen durchdachten Entscheid zu fällen. Man kann sich auch nur auf gewisse Grundwerte abstützen und sich davon leiten lassen; man kann auch den Empfehlungen der Parteien oder gewissen Interessengruppen wie den Kirchen oder anderen Organisationen oder Institutionen folgen, denen man sich verbunden fühlt.     

swissinfo.ch : Wie stark werden solche Empfehlungen beachtet?

G.L.: Eigenartigerweise verneinen manche Leute die Frage, ob sie die Empfehlungen ihrer bevorzugten Partei zur Kenntnis genommen hätten – und solche Befragungen gibt es. Aber wenn man das Ausmass betrachtet, in dem die Stimmenden im Einklang mit der Empfehlung ihrer Partei abstimmen, erkennt man, dass dies ziemlich oft der Fall ist.

swissinfo.ch : Und wie gut werden die Empfehlungen der Regierung befolgt?

G.L.: Für manche Leute sind sie wichtig. Traditionelle Wähler vertrauen – insbesondere im Zweifelsfall – der Regierung viel stärker als den Parteien. 

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swissinfo.ch : Im Grossen und Ganzen benützen die Befürworter der PID Fakten, während die Gegner Emotionen benützen, von gefährlichen Entwicklungen, Eugenik und Designer Babies sprechen. Welches ist die beste Strategie: auf das Herz oder auf den Kopf zu zielen?

G.L.: Bei kontroversen Themen waren Kampagnen, denen es gelang, positive oder negative Gefühle zu erzeugen, erfolgreicher als jene, die rational argumentierten.

Wenn es um Themen geht, deren Details nicht viele verstehen, kann es ein Problem sein, zu sehr an die Vernunft zu appellieren. Im Allgemeinen ist es kluger, eine emotionale Note in die Kampagne zu bringen, anstatt komplizierte rationale Argumente.

swissinfo.ch : Aber wenn – wie Sie sagen – viele Leute eine Prädisposition haben und ihre Meinung schon gemacht ist, dann verschleudern doch die Kampagnenleiter ihre Zeit?

G.L.: Das kommt darauf an. Bei dieser Vorlage haben die Befürworter einen grossen Vorteil, weil auch das Parlament, die meisten Parteien und die wissenschaftliche Gemeinschaft dazu Ja gesagt haben – sie versuchen nicht, eine hoffnungslose Schlacht zu gewinnen.

Aber wenn Wissenschaftler beteiligt sind, ist es schwieriger, emotionale Argumente vorzubringen – das wäre für viele Leute nicht sehr überzeugend.

swissinfo.ch : Gibt es spürbare Trends, wer bioethische Vorlagen eher befürwortet?

G.L.: Ich habe die Daten bei zwei Vorlagen ähnlicher Dimension angeschaut – die Initiative zum Schutz des Menschen vor Manipulationen in der Fortpflanzungstechnologie im Jahr 2000 und das Bundesgesetz über die Forschung an embryonalen Stammzellen – die zum Teil ebenfalls kontroverse ethische Themen beinhalteten.

Interessanterweise ist es sehr schwierig, klare Trends zu erkennen: Die Stimmenden auf der rechten wie auf der linken politischen Seite sind geteilt. Der einzig klare, kleinere Trend war, dass Leute, die an Gottesdiensten teilnehmen, eher für einen Schutz vor Manipulationen und gegen Stammzellenforschung stimmten

Der andere kleine Trend war, dass die französisch sprachige Schweiz der Wissenschaft stärker zugeneigt war,  als die deutschsprachige. Aber Unterschiede beim Abstimmungsverhalten liessen sich weder in Bezug auf das Alter noch das Geschlecht erkennen.

Genetische Diagnostik in der Schweiz

In der Schweiz nehmen jedes Jahr rund 6000 Paare künstliche Befruchtung in Anspruch, aus der etwa 2000 von insgesamt rund 80’000 Babies hervorgehen, die in der Schweiz geboren werden.

Die Verfassung erlaubt gegenwärtig, dass nur so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt werden dürfen, als ihr sofort eingepflanzt werden können. In der Praxis sind es drei. Neu dürfen es so viele sein, als für das Fortpflanzungsverfahren notwendig sind. Das können bis zu 12 sein.

Im Fall von unheilbaren Krankheiten und genetischen Anomalien wie das Down Syndrom sind diagnostische Untersuchungen an Föten in der Gebärmutter bereits erlaubt. Abtreibungen sind bis zur 12. Woche erlaubt.

Wenn die Verfassungsänderung durchkommt, wären die gleichen Diagnosetests auch an künstlich befruchteten Embryonen erlaubt, und zwar vor der Schwangerschaft.

Heute können Abklärungen über Erbkrankheiten erst während der Schwangerschaft im Rahmen pränataler Untersuchungen vorgenommen werden. Oft sehen sich betroffene Paare dadurch vor die schwierige Entscheidung gestellt, ob sie die Schwangerschaft abbrechen sollen oder nicht. Dank der PID können Embryonen ohne Hinweis auf die Erbkrankheit der Eltern eingesetzt werden.

Die Verfassungsänderung würde auch das Aufbewahren von Embryonen für einen späteren Transfer zulassen.

Mit der geltenden Regelung müssen alle entwickelten Embryonen in den Mutterleib übertragen werden. Dies sind häufig zwei oder sogar drei Embryonen. Dadurch häufen sich Mehrlingsschwangerschaften, die ein erhebliches Risiko für Mutter und Kinder darstellen. Wird nur ein einziger Embryo ausgewählt und eingesetzt, können Zwillings- und Drillings-schwangerschaften reduziert werden.

Die Verfassung verbietet weiterhin, Embryonen aufgrund ihres Geschlechts oder anderer Körpermerkmale gezielt auszuwählen oder sogenannte Retterbabies zu erzeugen, die sich als Stammzellenspender für ein schwerkrankes Geschwister eignen.

(Quelle: Bundesamt für Gesundheit) 

(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)

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