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Kinderbetreuung zwischen Staat und Familie

Nicht in allen politischen Lagern gern gesehen: Kinder in einer Tagesstätte. Keystone

Am Freitag wurde die Petition "Kinderbetreuung fair finanzieren" dem Bundesrat übergeben. In der Diskussion über familienergänzende Betreuung geht es nicht nur um Geldfragen, wie ein Besuch in einer Kinder-Tagesstätte zeigt.

Es ist halb acht Uhr morgens. Chayenne, Louis und Esna, zwischen fünf und sechs Jahre alt, frühstücken mit einer Betreuerin in der Kinder-Tagesstätte (KiTa) «Wyler» in Bern.

Chayenne braucht Hilfe beim Öffnen des Brotaufstrichs. Sie hält das Glas der Betreuerin hin und sagt: «Aufmachen.» Die Betreuerin fragt «Wie sagt man?», bevor sie das Glas öffnet. «Bitte aufmachen», sagt das Mädchen.

Die KiTa bietet 36 Kindern einen Platz an, der jedoch auf 55 Kinder aufgeteilt ist, weil nicht alle täglich hier sind. Alle paar Minuten bringen Väter oder Mütter ihre zum Teil noch verschlafenen Kinder in die KiTa «Wyler».

Für einige Stunden geben die Eltern ihre Kinder zur Betreuung in eine öffentliche Institution, die je zur Hälfte vom Kanton und von der Stadt bezahlt wird.

Früher oder später müssen sich alle Eltern die Frage stellen, wer ihre Kinder betreuen soll. Bleibt ein Elternteil zu Hause oder bringt man die Kinder in eine KiTa? Die Gründe für oder gegen die KiTa sind vielfältig und wiederspiegeln aktuelle politische Diskussionen auf nationaler Ebene.

Entscheidung aus finanziellen Gründen

Michael Minder betritt die KiTa mit seinen zwei Kindern Fiona und Sven. Sie sind zweieinhalb und eineinhalb Jahre alt und verbringen jeweils drei Tag pro Woche in der KiTa. Für die Betreuung ihrer Kinder bezahlen die Minders 1000 Fr. im Monat.

«Wir bringen unsere Kinder in die KiTa, weil meine Frau und ich arbeiten müssen», sagt der 31-jährige Koch. «Wir konnten uns gar nicht anders entscheiden, weil wir mit nur einem Lohn – egal ob mit meinem oder mit dem von meiner Frau – nicht über die Runden gekommen wären.»

Hätten sie sich frei entscheiden können, wäre es den Eltern lieber gewesen, ihre Kinder zu Hause zu betreuen. «Aber wenn ich jetzt sehe, wie sich die Kinder weiterentwickelt haben hier, bin ich schon fast froh, dass wir sie hierher gebracht haben», sagt der Vater.

Dass sich die Kinder gut entwickeln, auch sprachlich, liege sicher auch daran, dass sie mit vielen anderen Kindern zusammen sein können, ist Minder überzeugt.

Soziale Kontakte mit anderen Kindern

Auch Anna M., die soeben ihre dreijährige Tochter Nora der Betreuerin übergeben hat, musste das erste Kind in die KiTa bringen, weil sie selber arbeitete. «Jetzt bin ich Hausfrau und gebe Nora ab, damit sie sozialen Kontakt zu anderen Kindern hat», sagt die bald dreifache Mutter.

Nora ist zwei Tage pro Woche in der KiTa. «Wir bezahlen 200 Franken pro Monat. Hätte es viel mehr gekostet, hätten wir sie nicht geschickt», sagt Anna M.

Ab und zu plage sie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihre Tochter abgibt. Ihr gehe dabei durch den Kopf, dass sie ihr Kind abschiebe. «Aber ich denke, dass der soziale Kontakt für ein Kind schon in frühen Jahren besser ist, als wenn es nur zu Hause ist und wohlbehütet als ‹Spielplatzkind› aufwächst», sagt die Mutter. Deshalb geniesse sie auch die Zeit, die sie für sich habe, wenn ihre Tochter in der KiTa sei.

Öffentliche oder familiäre Betreuung?

Während die Minders auf die öffentliche, also auf die ausserfamiliäre Betreuung angewiesen sind, ist es für Anna M. ein Angebot, das sie bewusst nutzt, weil sie der Meinung ist, dass die sozialen Kontakte für ihre Tochter wichtig sind.

Beide Eltern stellten sich jedoch die Frage, ob es richtig sei, das eigene Kind in die KiTa zu schicken? Auch die öffentliche Diskussion dreht sich um diese Frage, ob die Betreuung eine öffentlich oder eine familiäre Aufgabe ist.

Für die Petitionäre «Kinderbetreuung fair finanzieren» ist die Schaffung von Kinder-Betreuungsplätzen eine öffentliche Aufgabe, die weiter ausgebaut und gefördert werden soll.

Anders die Schweizerische Volkspartei (SVP), die mit der im Dezember lancierten Familieninitiative für die familieninterne Betreuung plädiert. Die SVP wehrt sich dagegen, dass die Kinderbetreuung «ab dem ersten Tag im Leben staatlich kontrolliert werden» soll, wie Christoph Blocher im Parteiblatt SVP-Klartext schreibt.

Nicht nur Eltern sind verantwortlich

Für Onyedum Andrew Sunny, dessen zweijährige Tochter die KiTa besucht, muss der Staat sogar Verantwortung übernehmen: «Schauen Sie die Dritt-Welt-Länder an. Dort haben die Staaten keine finanziellen Möglichkeiten, Geld für solche Angebote auszugeben. Die Verantwortung liegt allein bei den Eltern.»

Das sei jedoch nicht gut, weder für die Kinder noch für den Staat. «Der Staat muss einen Teil der Verantwortung für die Kinder übernehmen. In jeder fortschrittlichen Gesellschaft gehört das dazu», sagt der Vater.

Wahlfreiheit gewährleisten

«Studien haben gezeigt, dass es sich wirtschaftlich lohnt, wenn beide Eltern arbeiten», sagt Jürg Haeberli, Abteilungsleiter des Jugendamtes der Stadt Bern. Doch sollten die beiden Modelle (öffentliche vs familiäre Betreuung) nicht gegeneinander ausgespielt werden.

«Der Bedarf an Betreuungsplätzen ist vorhanden», sagt Haeberli. Die Nachfrage sei in der Stadt Bern sogar grösser als das derzeitige Angebot. 35% der Eltern nutzen familienergänzende Betreuungsplätze, die Nachfrage liegt jedoch bei 40%.

«Von den restlichen 60% schaut sicher ein Teil selber zu den Kinder, gibt sie bei Grosseltern oder anderen Verwandten in Obhut oder verfolgen andere Modelle», erklärt er. «Die traditionellen Familien sind in der Minderheit.»

Sandra Grizelj, swissinfo.ch

Die Petition «Kinderbetreuung fair finanzieren» wird vom Verband Personal öffentlicher Dienste und vom Verband Kindertagesstätten der Schweiz getragen.

Die Petition verlangt mindestens ein Prozent des Bruttoinlandproduktes (BIP) in Form von öffentlichen Geldern. Ein Prozent des BIP entspricht etwa 5 Milliarden Franken.

Mit diesem Betrag sollen die Qualität ausgebaut, bessere Arbeitsbedingungen, Personal ausgebildet, mehr Plätze geschaffen und die Elternbeiträge gesenkt werden.

Mitte Februar 2010 hat der Bundesrat beschlossen, das Impulsprogramm für familienergänzende Kinderbetreuung zu verlängern. In den Jahren zwischen 2011 und 2015 sollen 80 Mio. in die Kinderbetreuung investiert werden.

Im Dezember 2009 lancierte die Schweizerische Volkspartei (SVP) die Familieninitiative. Sie fordert, dass Eltern, die ihre Kinder selber betreuen, ein mindestens gleich hoher Steuerabzug gewährt wird wie Eltern, «die ihre Kinder fremd betreuen lassen», wie dem Initiativtext zu entnehmen ist.

Die SVP reagiert damit auf den Beschluss der nationalen Räte in der Herbstsession 2009.

Die Räte haben sich dafür ausgesprochen, dass Eltern, die ihre Kinder auswärts betreuen lassen, ein Steuerabzug von maximal 10’000 Franken gewährt wird.

Mit der Initiative wehrt sich die SVP gegen die Verstaatlichung von Familien und Kindern.

Die Kosten für die Betreuungsangebote in der Stadt Bern werde ja zur Hälfte vom Kanton und von der Stadt bezahlt.
Der Bund beteiligt sich finanziell nur bei neu geschaffenen Einrichtungen.

Die Kosten für die Betreuung werden nach dem Bruttoeinkommen der Eltern berechnet. Der Mindestbetrag liegt bei 150 Fr./Kind, der Maximalbeitrag bei 2000 Fr./Kind. Hinzu kommen 7 Fr./Tag für das Essen.

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