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«Leuchtendes Beispiel für die ganze islamische Welt»

Die Premiers-Gattin gibt punkto Kopftuch den Kurs vor: Emine und Recep Tayyip Erdogan an einer Sportveranstaltung 2010. AFP

2008 noch strebte Erdogan für die Türkei die EU-Vollmitgliedschaft an. Heute orientiere sich der quasi alleinherrschende Premier, auch befeuert durch das rasante Wirtschaftswachstum, Richtung islamische Welt, sagt der Strategieexperte Kurt R. Spillmann.

Zu Anfang des neuen Jahrtausends war die Türkei fast bankrott. Heute, nur gut eine Dekade später, gehört das Land am Bosporus zu den 15 stärksten Wirtschaftsmächten der Welt.

Den Kurs, den Premier Recep Tayyip Erdogan verfolgt, bringt Kurt R. Spillmann auf die Formel «Industrialisierung und Islamisierung».

swissinfo.ch: Wie nachhaltig ist der gewaltige Aufschwung der Türkei? 

Kurt R. Spillmann: Der Aufschwung kann nachhaltig sein, aber er ist abhängig von verschiedenen Faktoren wie dem Gang der Weltwirtschaft, da die Türkei zunehmend Güter exportiert. Ein Unsicherheit schaffender Faktor ist auch das grosse Handelsbilanzdefizit.

Die Türkei hat aber ein sehr offenes Klima für Investoren geschaffen und ist daher sehr attraktiv für Direktinvestitionen aus dem Ausland. Das wird auch so bleiben, zumindest für die nähere Zukunft. Allerdings ist die Türkei etwas besorgt, dass sich die USA und Europa nicht schnell genug von der gegenwärtigen Wirtschaftskrise erholen, da die wichtigsten Kunden für die Exportgüter der Türkei nach wie vor die EU-Länder sind. 

swissinfo.ch: Wie nutzt Ankara seine wirtschaftliche Potenz, um seinen geopolitischen Einfluss zu vergrössern?

K.R.S.: Hier hat sich eine grosse Veränderung abgespielt. Noch 2008 hatte Premierminister Erdogan in seiner berühmt-berüchtigten Kölner Rede gesagt, dass es für die Türkei keinen anderen Weg gebe als die volle Mitgliedschaft in der EU.

Das hat sich komplett geändert. Ankara versucht, in der Region eine eigene Machtpolitik zu betreiben und eine eigene geopolitische Wichtigkeit zu erlangen.

Im Westen betrachtet sich die Türkei als wichtigen Faktor im Mittelmeerraum, einerseits als Nato-Mitglied, anderseits auch als Schutzmacht des nördlichen Teils von Zypern. In Richtung  Nordosten der Türkei, in Richtung der Staaten Zentralasiens wie Turkmenistan, spielt die Türkei die Rolle einer Drehscheibe für die Energieflüsse.

Richtung Süden und Südosten will die Türkei für die gesamte islamische Welt als leuchtendes Beispiel für die gelungene Synthese von Industrialisierung und islamischer Kultur fungieren, wie dies Erdogan in Kairo und Tunis dargestellt hat. In diesem Sinn beansprucht die Türkei durchaus einen wachsenden geopolitischen Einfluss, und in diesem Sinn ist Erdogan auch bereits im September 2011 bei seinem Besuch in Kairo als «Held» und «Führer der ganzen arabischen Welt» bejubelt worden.   

swissinfo.ch: Die «ewige» Diskussion um einen EU-Beitritt ist angesichts der Schuldenkrise verstummt. Ist eine EU-Mitgliedschaft aus Sicht der Türkei überhaupt noch sinnvoll? 

K.R.S.: Auf der türkischen Seite ist die Beitrittsdiskussion nicht nur verstummt, sondern ins Gegenteil umgeschlagen. Der türkische Wirtschaftsminister Zafer Caglayan hat den Friedensnobelpreis für die EU dahin gehend kommentiert, dass diese die «heuchlerischste Union aller Zeiten» sei, welche die Türkei über 50 Jahre vor ihren Toren habe warten lassen und eigentlich einen Preis für Falschheit und Scheinheiligkeit verdient habe.

Ähnlich tönt es aus unmittelbarer Umgebung von Ministerpräsident Erdogan. Das Bild hat sich dort also grundlegend verändert. Im Augenblick ist die Türkei zu selbstbewusst, um diese Vollmitgliedschaft überhaupt noch anzustreben. Die Verhandlungen schleppen sich zwar weiter wie seit vielen Jahren, aber ohne Engagement.

swissinfo.ch: Wie sieht es aus Sicht von Brüssel aus? Angesichts von Schulden- und Eurokrise wäre ein potentes Neumitglied doch willkommen?

K.R.S.: In Brüssel gibt es immer noch die Befürworter einer türkischen Mitgliedschaft. Aber innerhalb der EU zeigen sich nach wie vor sehr widersprüchliche Tendenzen. Der Friedensnobelpreis, der eine Stärkung der Union  bewirken sollte, beschleunigt den Beitritt der Türkei nicht. Nach wie vor dominieren die Bedenken, dass ein Beitritt der Türkei die zentrifugalen Kräfte in der EU nochmals gewaltig verstärken könnte. 

swissinfo.ch: Die Türkei steht auch wegen des Bürgerkrieges im Nachbarland Syrien im Brennpunkt. Kann sie als eine Art Frontstaat gegen russische Interessen im Nahen Osten ihre Stellung auch geostrategisch ausbauen, etwa in der Nato? 

K.R.S.: Die Türkei ist in Bezug auf Syrien über die Nato sehr enttäuscht, besonders über das Verhalten der USA. Das liegt daran, dass Washington und Ankara völlig unterschiedliche Vorstellungen über die Situation in Syrien nach Assad haben. Erdogan hat in der Türkei eine Politik der Re-Islamisierung eingeleitet auf streng sunnitischer, um nicht zu sagen fundamentalistischer Basis. Im gleichen Geist strebt die Türkei – im Verbund mit Saudi-Arabien und Katar – in Syrien einen muslimischen Staat an.

Demgegenüber möchten die USA einen multi-ethnischen und multi-konfessionellen Staat und eine offene Gesellschaft anstelle der Assad-Diktatur errichten. In Bezug auf die Nato sehe ich keine Verbesserung der Situation, sondern eher eine Verschlechterung. Gegenüber Russland wird die Türkei aber eine wirklich tiefe Verstimmung zu vermeiden suchen, auch aus Gründen der engen wirtschaftlichen Verbindungen.

swissinfo.ch: Die Türkei gilt als Mittlerin zwischen Okzident und Orient. Ist dies angesichts der neuen Machtpolitik Ankaras nur noch ein Klischee? Wo positioniert Erdogan die Türkei? 

K.R.S.: Sie positioniert sich je länger, je deutlicher im Lager der sunnitischen, streng gläubigen Nationen. Allerdings sind die inneren Spannungen in der Türkei zwischen den kemalistischen, also nicht religiösen, und den jetzt dominierenden islamistischen Tendenzen auch im Strassenbild Istanbuls, zum Beispiel in der Kleidung der Frauen,  noch überall offensichtlich. Aber Erdogan ist mittlerweile zu einem richtigen Alleinherrscher geworden, der das Land vollkommen dominiert, was sich auch im wachsenden Druck auf die Pressefreiheit bemerkbar macht.

Die Kräfte der Modernisierung, die bisher gerade durch die Armee repräsentiert waren, die vom Staatsgründer Kemal Atatürk als Hüter der Modernisierung eingesetzt worden war, wurden abgehalftert.

Jüngst sagte mir ein Vertreter der Geschäftswelt in Istanbul, dass kein Unternehmer mehr Staatsaufträge erhalten könne, wenn er sich nicht religionskonform verhält und wenn seine Frau das Kopftuch nicht trägt. Das ist ein kleines, aber deutliches Zeichen einer kulturellen Umorientierung, die von dieser Mittlerbrücke zwischen West und Ost und dem «sowohl als auch» einer offenen Gesellschaft deutlich abrückt.

Der Friedensvertrag von Lausanne 1923 gilt als Geburtsstunde der türkischen Republik.

1925 schlossen die beiden Länder einen Freundschaftsvertrag.

1926 übernahm Staatsgründer Kemal Atatürk für das reformierte türkische Zivil- und Eherecht fast unverändert das fortschrittliche schweizerische Zivilgesetzbuch (ZGB).

In den 1980er- und 1990er-Jahren wurde der türkisch-kurdische Konflikt aufgrund der starken Präsenz kurdischer Flüchtlinge auch in die Schweiz getragen.

1993 wurden vor der türkischen Botschaft in Bern ein kurdischer Demonstrant erschossen und sieben weitere verletzt. Der mutmassliche Schütze gehörte zum Botschaftspersonal.

Einen Tiefpunkt erreichten die Beziehungen 2003 bis 2005 aufgrund der Kurdenfrage und der Diskussion um den Genozid an den Armeniern 1915.

2003 anerkannte das Waadtländer Kantonsparlament die Tötung von über 1,5 Mio. Armeniern durch das Osmanische Reich als Genozid.

Darauf annullierte Ankara einen geplanten Besuch der damaligen Schweizer Aussenministerin Micheline Calmy-Rey in der Türkei.

2007 verurteilte ein Gericht in Lausanne den türkischen Linksnationalisten Dogu Perinçek wegen Verletzung der Rassismus-Strafnorm. Perinçek hatte bei Auftritten in der Schweiz den Genozid als «internationale Lüge» bezeichnet.

Aus demselben Grund wurden drei weitere türkische Nationalisten verurteilt.

Nach 2006 hellte sich das Klima wieder auf, und 2008 besuchten nicht weniger als vier Mitglieder des Bundesrats die Türkei.

Der 75-jährige Historiker und Konfliktforscher ist emeritierter Professor für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETHZ).

Spillmann war dort 1986 Gründer der Forschungsstelle für Sicherheitspolitik und Konfliktanalyse, die er heute noch leitet.

Er machte sich insbesondere einen Namen als Leiter des Zentrums für vergleichende und internationale Studien Zürich (CIS), das von ETH und Universität Zürich gemeinsam betrieben wird.

An der ETH leitete er auch von 1987 bis 1995 die Abteilung für Militärwissenschaften.

Als Militär im Rang eines Oberst und Sicherheitspolitiker beriet er die Schweizer Regierung und das Parlament in Fragen der Sicherheitspolitik und der Reorganisation des Schweizer Militärs.

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