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Öffnung bringt der Schweiz Licht und Schatten

Baustellen werden vor allem dazu benutzt, die Missbräuche der Personenfreizügigkeit offenzulegen. Keystone

Seit 2002 gilt zwischen der Schweiz und der Europäischen Union (EU) die Personenfreizügigkeit. Deren Befürworter zeigen auf das dadurch erreichte Wachstum. Die Gegner betonen die zahlreichen unerwünschten Folgen der Öffnung.

Über zehn Jahre Personenfreizügigkeit: Mitte 2002 trat das entsprechende Abkommen der Schweiz mit den Staaten der Europäischen Union (EU) in Kraft. Damit erhielten EU- und Schweizer Bürger das Recht, Aufenthaltsort und Arbeitsplatz innerhalb der Staatsgebiete der Länder frei zu wählen, die der Europäischen Union (EU) oder der Europäischen Freihandelsassoziation (Efta) angehören.

  

Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) konstatierte kürzlich, dass die Personenfreizügigkeit das Potenzial für wirtschaftliches Wachstum deutlich erhöht, respektive die Schweiz wirtschaftlich vorwärts gebracht hat. Gegner der Personenfreizügigkeit bezweifeln dies.

Die Schweizerische Volkspartei SVP hat deshalb die Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» lanciert, und linke Kreise und Gewerkschaften kritisieren die Wirksamkeit der so genannten flankierenden Massnahmen.

Umstrittene Erfahrungen

Die positiven Erfahrungen des Seco werden vom Schweizerischen Arbeitgeberverband geteilt. Dessen Direktor Thomas Daum sagt, der Seco-Bericht zu den Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf den Arbeitsmarkt widerlege die Ansichten jener, die sie grundsätzlich ablehnten.

Anders sehen dies die Gewerkschaften: Vor allem die «flankierenden Massnahmen» genügten nicht. Diese sollten Erwerbstätige vor missbräuchlichen Unterschreitungen der geltenden Lohn- und Arbeitsbedingungen schützen.

Personenfreizügigkeit: Statistiken gegen Statistiken

Auf Grund von statistischen Evidenzen jedoch stellt George Sheldon, Professor für Arbeitsmarkt- und Industrieökonomie der Uni Basel, fest, dass es gar nicht die Personenfreizügigkeit war, die als Ursache zur verstärkten Zuwanderung geführt habe: Sie habe lediglich einen bereits vorher, nämlich Mitte der 90er-Jahre eingesetzten Zuwanderungstrend aus den nördlichen EU-Ländern, vor allem aus Deutschland, alimentiert.

Das sei falsch, sagt SVP-Vizepräsident Oskar Freysinger gegenüber swissinfo.ch: «Seit die Personenfreizügigkeit greift, also seit vier bis fünf Jahren, zeigen die Statistiken des Bundes ganz eindeutig eine Zunahme der Einwanderung. Tür und Tor sind jetzt offen, auch für angeblich Arbeitssuchende oder Schein-Selbständige.»

Statistisch lasse sich ein allgemeiner Lohnverfall infolge der Zuwanderung von Ausländern aus den alten EU-Ländern (EU17) nach dem Inkrafttreten der Freizügigkeit nicht nachweisen, sagt Sheldon und bestätigt damit die Ausführungen des Seco: Zumindest «die Löhne von Schweizern sind allemal verschont geblieben».

Und die individuellen Löhne von Hochqualifizierten, egal ob In- oder Ausländer, stiegen zwischen 2002 und 2009 trotz Zuwanderung sogar noch um rund durchschnittlich sechs Prozent.

Konkurrenz zwischen «Alt-Ausländern» und «Schengen-Zuwanderern»

Sheldon folgert daraus, dass Zuwanderer und Inländer auf den Schweizer Arbeitsmärkten keine Konkurrenten seien, sondern sich komplementierten. Konkurrieren würden sich die Ausländer nun untereinander: Niedrig qualifizierte, bereits länger ansässige Ausländer, besonders aus Nicht-EU-Staaten, hätten zum Teil Lohneinbussen hinnehmen müssen.

Freysinger sieht das anders: «Ich möchte ja nicht die sozialdemokratische Partei zitieren, aber sogar sie anerkennt das grundsätzliche Problem mit Schwarzarbeitern und Scheinselbständigen.» Es fehle einfach an Kontrolle. Angesprochen sind auch hier die flankierenden Massnahmen.

Altlasten der Ausländerpolitik von gestern

Auch die Gründe für höhere Arbeitslosenraten bei Ausländern als bei Inländern, die den Freizügigkeits-Gegnern gerne als Beweis für die negativen Folgen dienen, muss man laut Sheldon sehr genau analysieren: «Die hohe Ausländerarbeitslosigkeit hat gar nichts mit dem Freizügigkeitsabkommen zu tun.»

Schlüssle man auf, wer genau die arbeitslosen Ausländer seien, stosse man auf einen «hohen Anteil von meist ungelernten ausländischen Arbeitskräften, die vor Mitte der 90er-Jahre über Jahrzehnte von der hiesigen Wirtschaft bevorzugt rekrutiert worden waren, heute aber in dem noch vorhandenen Ausmass nicht mehr gebraucht werden.» Deshalb solle man die Altlasten einer früheren Ausländerpolitik nicht mit den Folgen der Personenfreizügigkeit verwechseln.

Doch, entgegnet Freysinger, denn Ausländer, die vorher in der EU gearbeitet hätten, erhielten sehr schnell auch in der Schweiz Anrecht auf Arbeitslosengelder. «Die wären ja schön blöd, in ihre Ursprungsländer zurück zu kehren, wo die Ansätze tiefer liegen.» Gemäss dem Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement werden Personen aus EU-Staaten auf Rechtsmissbrauch geprüft, «sofern sie bereits nach einem Aufenthalt von weniger als einem Monat in der Schweiz arbeitslos geworden sind» und (unter Anrechnung von Beitragszeiten im Ausland) Arbeitslosengeld beziehen möchten.

Wirtschaftlich vorwärts dank Freizügigkeit?

Wenn viele gut Ausgebildete zuwandern, erhöhe sich die Produktivität der Erwerbstätigkeit ganz allgemein, stellt Sheldon anhand von Erfahrungen fest: Dank dieser «Bildungsrendite» dürfte die Schweiz von der neuen Migration wirtschaftlich profitiert haben. Dazu verringere ein grosses Angebot an gut Ausgebildeten tendenziell die Lohnschere zwischen hoch und niedrig Qualifizierten, was erwünscht sei.

Und schliesslich zahlen gut ausbildete Ausländer dank hoher Löhne auch mehr Steuern und Sozialbeiträge. Sie seien Netto-Einzahler, im Gegensatz zum beliebten Klischee des Ausländers, der Sozialversicherungen beansprucht. 

Das möge der Fall sein, erwidert Freysinger , «aber nur zu einem geringen Anteil, zum Beispiel bei Ärzten. Hier liege das Problem darin, dass die Schweiz ihre eigene Medizinerausbildung künstlich einschränke, dafür aber massenhaft deutsche Ärzte importiere: «Die sind zwar billiger, haben aber keine vergleichbare Ausbildung.»

Problem: Der Numerus Clausus, also die künstliche Einschränkung der Studentenzahlen, wird seit mehr als 30 Jahren mit den knappen Ausbildungsplätzen an den Schweizer Universitäten begründet. Die Personenfreizügigkeit, erst 2002 eingeführt, hat damit nichts zu tun. 

Negative Folgen der Personenfreizügigkeit zeigen sich im Baugewerbe. Auf Baustellen kommt es oft zu Lohndumping und damit unlauterem Wettbewerb durch nicht in der Schweiz ansässige Ausländer.

Dadurch wird die politische Mehrheitsfähigkeit der gesamten Personenfreizügigkeit in Frage gestellt.

Dank «flankierenden Massnahmen» hätten solche

missbräuchliche Lohnunterbietungen bestraft werden sollen.

Doch Vollzugsdefizite bei den Kontrollen liessen die Gewerkschaften, unterstützt vom grenznahen Gewerbe, aktiv werden.

Nun hat der Ständerat am 25. September 2012  beschlossen, dass Schweizer Generalunternehmer im Baugewerbe solidarisch für die ganze Kette an Subunternehmern haften sollen («Kettenhaftung») – wie in Nachbarländern der Schweiz auch.

Diese Anti-Lohndumping-Vorlage geht nun in den Nationalrat.

Die im Juni 2002 in Kraft getretene Personenfreizügigkeit ist eines der sieben bilateralen Abkommen, die von der Schweiz und den damals 15 Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) 1999 unterzeichnet wurden.
 
Das Schweizer Volk hat den sieben bilateralen Abkommen im Jahr 2000 mit 67,2% zugestimmt.
 
Im Jahr 2005 haben 56% der Stimmenden der Ausweitung der Personenfreizügigkeit auf 10 neue EU-Staaten zugestimmt.
 
Im Jahre 2009 haben 59,6% der Schweizer für die Weiterführung des Freizügigkeitsabkommens sowie dessen Ausdehnung auf Bulgarien und Rumänien zugestimmt.

Die Volksinitiative der Schweizerischen Volkspartei SVP «Gegen Massen-Einwanderung» verlangt, die Zahl der Bewilligungen für den Aufenthalt von Ausländern in der Schweiz durch jährliche Höchstzahlen und Kontingente zu begrenzen.

Völkerrechtlich relevante Verträge, die diesem  Verfassungsartikel widersprächen, wären laut SVP neu zu verhandeln und anzupassen.

Im Klartext: Das Neuaushandeln der bilateralen Verträge käme einer Absage an die Personenfreizügigkeit gleich.

Die Begrenzung beträfe ausländische Arbeitnehmer, Asylsuchende und Grenzgänger.
Die jährlichen Höchstzahlen und Kontingente für erwerbstätige Ausländer wären gemäss Initiative auf die gesamtwirtschaftlichen Interessen der Schweiz unter Berücksichtigung eines Vorranges für Schweizer auszurichten.

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