Russische Freiheits-Aktivisten kämpfen vernetzt
Die Joint Mobile Group, eine russische Nichtregierungs-Organisation, die sich für die Menschenrechte einsetzt, hat in Genf den Martin Ennals Award 2013 erhalten. Die Gruppe führt kollektiv jene Arbeit weiter, welche die ermordete Journalistin Anna Politkowskaja in Tschetschenien angefangen hatte.
Anna Politkowskaja musste 2006 ihr Leben lassen, weil sie die Gewalt gegen Rechte und Freiheiten in Tschetschenien untersucht hatte. 2009 ereilte die Aktivisten Natalja Estemirowa, Sarema Sadulajewa und Alik Dschabrailow das gleiche Schicksal.
Mit der Ermordung dieser symbolträchtigen Figuren setzten die Mörder ein starkes Signal, alle kritischen Stimmen in Tschetschenien zum Verstummen zu bringen.
Doch wenn der Hydra der Kopf abgeschlagen wird, wachsen ihr mindestens sieben nach, sagt die Legende. Unter diesem Leitmotiv hat sich 2009 die Joint Mobile Group (JMG) gebildet, ein Netzwerk aus Anwälten und Menschenrechts-Aktivisten, die von Russland aus mit fliegenden Teams in Tschetschenien aktiv sind. Ihre Stärke: Eine weit verstreute Organisation, welche die Behörden praktisch nicht unterdrücken können.
Der so genannte Nobelpreis der Menschenrechte wird seit 1993 vergeben. Er hat seinen Namen von einem der grössten Menschenrechts-Aktivisten, der 1968 Generalsekretär von Amnesty International wurde.
Jedes Jahr wird der Preis im Umfang von 20’000 Franken an eine Person oder Gruppe vergeben, die sich mit aussergewöhnlichen, mutigen und innovativen Mitteln gegen Missbräuche der Menschenrechte einsetzt.
Der Preis soll Aktivisten ermutigen, die in Gefahr sind und sofortigen Schutz benötigen.
Neben diversen Aussenministerien (Schweiz, Deutschland, Finnland, Irland, Spanien) ist auch die Stadt Genf ein wichtiger Partner, denn sie organisiert die jährliche Übergabe-Zeremonie.
Die Martin Ennals Foundation entstand aus der Zusammenarbeit von 10 der wichtigsten internationalen Menschenrechts-Organisationen, welche auch die Jury stellen: Amnesty International, Human Rights Watch, Fédération internationale des ligues des droits de l’Homme, Weltorganisation gegen Folter, Front Line, Internationale Juristenkommission, Internationale Gesellschaft für Menschenrechte, Human Rights First, Diakonie Deutschland und Human Rights Information and Documentation Systems.
Am 8. Oktober hat die Gruppe in Genf den Martin Ennals Award erhalten. Mit dem Preis wird ihre Kampflust und ihr Ideenreichtum ausgezeichnet, während Tschetschenien wie auch Russland immer noch ungestraft bleiben.
Diese prestigeträchtige Auszeichnung, die aus der Zusammenarbeit der zehn wichtigsten internationalen Menschenrechts-Organisationen entstanden ist, zeichnet Menschenrechts-Aktivisten aus, die sich in Gefahr begeben und sofortigen Schutz brauchen.
Terror in Tschetschenien
«Die Morde des Jahres 2009 haben eine Decke des Terrors über Tschetschenien geworfen», sagt Igor Kalyapin, Haupturheber der Joint Mobile Group und Vorsitzender des Komitees IRCAT, das sich gegen Folter einsetzt. «Die Nichtregierungs-Organisationen wurden alle gezwungen, ihre Aktivitäten einzustellen. Weil ihre Mitarbeitenden Tschetschenen waren, war ihr Leben in Gefahr.»
Auf Geheiss des prorussischen Präsidenten Ramsan Kadyrow kontrolliert die tschetschenische Regierung den Alltag der Bürgerinnen und Bürger bis ins kleinste Detail. Kidnappings, Folter und Morde sind an der Tagesordnung.
«Wir standen vor einem Dilemma. Entweder hätte man zugegeben, dass die Mörder ihr Ziel erreicht und damit gewonnen haben, oder man stellte sich eine andere Form zur Bekämpfung der Missbräuche vor», erzählt Kalyapin.
«Mit unserer neuen Konstellation können die russischen oder tschetschenischen Behörden keine Symbole mehr angreifen. Sollte eine oder mehrere Personen von uns verschwinden, würden die Missionen trotzdem weitergehen. Es war zentral, den Menschen diese Hoffnung zu geben, ihnen zu zeigen, dass es immer noch möglich ist, zu kämpfen und die Missbräuche anzuprangern.»
Neben der russischen Joint Mobile Group waren auch eine Ägypterin und ein Haitianer für den Martin Ennals Award 2013 nominiert.
Mona Seif, die in eine Familie von Menschenrechts-Aktivisten geboren wurde, ist eine der Gründerinnen der Bewegung «No to Military Trials for Civilians», die sich gegen Militärprozesse einsetzt, die gegen Zivilpersonen geführt werden.
«Meine Geschichte ist jene eines Kindes, Amr el-Beheir, der in einem geheimen Prozess, ohne dass die Familie oder ein Anwalt informiert worden wären, zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Ich hätte ihn nie ins Armeefahrzeug einsteigen lassen sollen, hätte auf meine innere Stimme hören sollen, die mir sagte, beschütze ihn. Das ist mein Schicksal, und damals habe ich meine Arbeit angefangen.»
Mario Joseph gilt als einflussreichster Menschenrechts-Anwalt Haitis. Er leitet seit 1996 das Bureau des Avocats Internationaux (BAI) in Haitis Hauptstadt Port-au-Prince. Er arbeitete an den Prozessen um das Raboteau-Massaker (2000) und Yvon Neptune gegen Haiti, dem ersten Fall vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte.
«Der grösste Missbrauch der Menschenrechte in Haiti ist heute die Besetzung des Landes durch die Vereinten Nationen (UNO). Diese Mission verletzt fortlaufend die Rechte der haitianischen Bevölkerung, und das in absoluter Strafffreiheit.»
(Quelle: InfoSüd)
Rechtliche Verfahren
Tatsächlich werden Mitglieder der JMG regelmässig bedroht, verhaftet oder eingeschüchtert. Bei ihren Missionen führen die Teams die Ermittlungen in Fällen von Entführung, Folter, erzwungenem Verschwinden und Morden weiter. Eine 24-Stunden-Hotline wurde eingerichtet, um Opfer und ihre Familien zu unterstützen und Vergeltungsmassnahmen zu verhindern.
Heute ist die Bewegung, die dutzende Mitglieder zählt, zu einer der wichtigsten Informationsquellen für Menschenrechts-Missbräuche in Tschetschenien geworden. Die Gruppe nutzt dazu die russische Justiz, aber auch internationale Mechanismen, die Russland ratifiziert hat.
«Wir arbeiten öffentlich, weil wir in Gerichtsverfahren involviert sind. All unsere Informationen werden dann als Beweismittel vor Gericht eingesetzt, oder um Druck auf die Behörden auszuüben», betont Igor Kalyapin.
«Eine weltweite Anerkennung wie der Martin Ennals Award erlaubt uns, unsere Stimme zu erheben und daran zu erinnern, dass Russland gegen alle internationalen Rechte verstösst. Wir sind sehr enttäuscht, dass alle anderen Länder derart Mühe damit bekunden, von Russland ein akzeptables Verhalten zu fordern. Es ist deshalb noch viel beunruhigender, weil ein Grossteil der russischen Bevölkerung der Meinung ist, Demokratie und die Verteidigung der Menschenrechte seien ein rein westliches Konzept.»
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