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Schiedsgerichts-Urteil im Fall Gaddafi ist bindend

Berlin ist Sitz des Schiedsgerichts Schweiz/Libyen. Keystone

Zur Beilegung der Krise mit Libyen hatte die Schweiz Ende Mai einen Aktionsplan unterzeichnet. Schlüsselelement: Ein internationales Schiedsgericht, das die Verhaftung von Gaddafi-Sohn Hannibal in Genf beurteilen soll.

Das Urteil dieses Gerichts mit Sitz in Berlin habe für die Schweiz absolut bindenden Charakter, sagt der Argentinier Marcelo Kohen, Professor am Genfer Institut für Internationale Studien und Entwicklung, im Gespräch mit swissinfo.ch.

Der Plan hält ferner fest, dass die Schweiz die «illegale Veröffentlichung» von Polizeifotos des Gaddafi-Sohnes bedauert, welche die Zeitung Tribune de Genève im letzten September publiziert hatte. Die oberste Verantwortung dafür trägt laut Abkommen die Genfer Kantonsregierung.

Zur Vorgeschichte: Im Juli 2008 verhaftete die Genfer Polizei Hannibal Gaddafi wegen angeblicher Misshandlung zweier Bediensteter.

Kurz darauf setzten die libyschen Behörden in Tripolis die beiden Schweizer Geschäftsleute Max Göldi und Rachid Hamdani fest. Nach knapp zwei Jahren als libysche Geisel traf Göldi Montag Nacht wieder in der Heimat ein. Hamdani durfte das Land bereits im Februar verlassen.

Ein internationales Schiedsgericht war bereits im August 2009 anlässlich des gescheiterten Besuchs des damaligen Bundespräsidenten Hans Rudolf Merz in der libyschen Hauptstadt vereinbart worden. Zwar benannten darauf beide Seiten ihre Vertreter. Diese nahmen ihre Funktionen aber nie auf.

swissinfo.ch: Wie beurteilen Sie den am Sonntag vereinbarten Aktionsplan?

Marcelo Kohen: Er ist eine Bestätigung dessen, was ich seit Monaten sagte: Der Konflikt konnte nur mit den drei Massnahmen beendet werden, nämlich Rücknahme der Visa-Beschränkungen, Übernahme der Verantwortung durch die Genfer Behörden sowie Einsetzung eines internationalen Gerichts.

Dabei war es unbedingt nötig, dass sich Deutschland und Spanien engagierten. Unglücklicherweise ging Zeit verloren, während der Rachid Hamdani und Max Göldi leiden mussten.

swissinfo.ch: Worauf wird sich das Tribunal in seinen Entscheiden stützen?

M.K.: Im Abkommen von letztem Sommer wurde vereinbart, dass das Gericht das Recht der beiden Länder, internationales Recht sowie Regeln der «internationalen Gepflogenheiten» anwenden werde, wie sie «zivilisierte Länder» anerkennen.

Selbst wenn das Gericht keine Verletzung von Schweizerischem oder internationalem Recht feststellen sollte, kann es die Schweiz verurteilen, eben wegen Verletzung solcher internationalen Gepflogenheiten.

Diese sind aber nirgends festgeschrieben. Die Richter müssen beurteilen, ob die Festhaltung von Hannibal Gaddafi während 48 Stunden mit den internationalen Gepflogenheiten vereinbar sind. Das ist sehr subjektiv.

swissinfo.ch: Werden die Schweiz und die Genfer Behörden rechtlich an ein Urteil des Tribunals gebunden sein?

M.K.: Absolut. Es gibt aber ein rechtliches Problem. Das Abkommen von 2009 hielt fest, dass das Schiedsgericht bestimmen kann, ob die Genfer Polizei korrekt gehandelt hat. Falls dies nicht der Fall war, wäre es Sache der zuständigen Gerichte in der Schweiz gewesen, die nötigen Schritte einzuleiten, um den Fall zu beurteilen und eventuell die Verantwortlichen zu bestrafen.

Laut neuem Abkommen wird das Schiedsgericht darüber urteilen. Das Problem besteht darin, wie sich die Genfer Richter diesbezüglich verhalten werden.

swissinfo.ch: Die Genfer Kantonsregierung hat ihre Verantwortung bei der Publikation der Polizeifotos Hannibal Gaddafis eingeräumt. Sind sie auch verpflichtet, allfällige Sanktionen zu tragen?

M.K.: Alles ist möglich. Entwendete jemand die Fotos, geschah dies innerhalb der Verantwortlichkeit der offiziellen Genfer Behörden. Jemand muss da verantwortlich sein.

Man kann nicht einfach sagen: «Wir haben den Fall untersucht, aber keine Schuldigen gefunden.» Jemand auf höchster Stufe muss dafür die Verantwortung übernehmen. Diese fällt aber unter Schweizerisches Recht.

swissinfo.ch: Können die Schweiz oder Libyen gegen Entscheide des Tribunals appellieren?

M.K.: Nein. Das Abkommen von 2009 sieht diese Möglichkeit nicht vor, Entscheide des Schiedsgerichts sind also endgültig.

swissinfo.ch: In diesem Abkommen ist festgehalten, dass ein Urteil innerhalb von zwei Monaten nach Beginn der Untersuchung vorliegen soll. Ist dies realistisch?

M.K.: Keinesfalls. Falls beide Seiten an ihren bereits ernannten Richtern festhalten, muss immer noch ein Oberschiedsrichter ernannt werden.

Ich gehe deshalb davon aus, dass das Gericht mehr Zeit verlangen wird. Ein allzu langes Verfahren liegt auch nicht im Interesse der beiden Länder.

swissinfo.ch: Können Schiedsgerichte tatsächlich dazu beitragen, die angeschlagenen Beziehung zwischen Ländern wieder zu normalisieren?

M.K.: Ja. Es gibt genug Fälle, in denen sich die involvierten Staaten unmöglich einigen konnten, weil völlig sie gegenteilige Positionen vertraten und niemand das Gesicht verlieren wollte. Genau das ist zwischen der Schweiz und Libyen der Fall.

In solchen Fällen sind Schiedsgerichte oder der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen (IGH) sehr gute Möglichkeiten, Probleme zu überwinden, gerade weil keine Seite das Gesicht verliert.

Simon Bradley, swissinfo.ch
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Künzi)

Die Schweiz hat 1,5 Millionen Franken auf ein deutsches Konto überwiesen, damit Max Göldi freikommen konnte aus seinem Gefängnis in Libyen.

Das Geld soll Tripolis entschädigen, falls die Schuldigen für die Weitergabe der Polizeifotos von Hannibal Gaddafi an die «Tribune de Genève» nicht gefunden werden.

Laut Aussendepartement (EDA) ist bisher kein Geld an Libyen geflossen.

Der argentinische Professor für internationales Recht lehrt seit 1995 am Genfer Institut für Internationale Studien und Entwicklung.

Kohen lehrte ebenfalls an Hochschulen in Paris, Madrid, Lecce und Palermo.

Seine Spezialgebiete sind internationale Rechtstheorie. Territoriale und Grenzkonflikte sowie rechtliche Lösungen von internationalen Konflikten.

1997 erhielt Kohen den Paul Guggenheim Preis für seine Schrift Feindlicher Besitz und territoriale Souveränität.

Quelle: Institut für Internationale Studien und Entwicklung Genf.

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