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Schweiz-EU vor der Zerreissprobe

Nach dem EWR-Nein demonstrierten gegen 6000 Menschen in Bern für eine solidarische Schweiz in Europa. Keystone

Das Verhältnis der Schweiz zur EU stehe vor einer "Zerreissprobe". Aber sie lasse sich noch abwenden, sagt Jean Russotto im Gespräch mit swissinfo.ch. Der Schweizer Rechtsanwalt verfolgt die Entwicklung der Beziehungen zwischen Bern und Brüssel seit 1972.

Wo waren Sie am 6. Dezember 1992, als die Schweiz Nein sagte zum EWR-Beitritt?

Jean Russotto: Bei mir zuhause in Brüssel, wo ich mit Bangen auf die Abstimmungsresultate wartete. Schweizer Diplomaten hatten mir die Ergebnisse am Nachmittag mitgeteilt. Sie waren schockiert – ich auch.

swissinfo.ch: Aus Distanz betrachtet, war der Schock berechtigt? Ist es der Schweiz nicht gelungen, alles zu bekommen, was sie sich wünschte, dank den beiden Paketen bilateraler Abkommen mit der EU von 1999 und 2004?

J.R.:  In der Tat. Es ist der Schweiz gelungen, mit der EU solide Brücken aufzubauen. Sie nimmt zu 80 Prozent am europäischen Binnenmarkt teil. Aber die Ausgangslage hat sich geändert.

swissinfo.ch: Warum?

J.R.: Ursprünglich wurde der bilaterale Weg als Etappe auf einem langsamen Beitrittsprozess betrachtet. Dieses Ziel wurde aufgegeben. Der sektorielle bilaterale Weg wurde in Bern zur Doktrin gemacht.

Und die EU, die sich ihrerseits nach Osten ausgedehnt hat, hat ihre Einstellung geändert. Die Schweiz ist zu einem bedeutenden Partner für sie geworden. Aber Brüssel ist nicht mehr in der Lage, der Schweiz massgeschneiderte Offerten zu machen. Deshalb kommen Forderungen der Union im institutionellen Bereich.

swissinfo.ch: Die institutionellen Probleme blockieren derzeit die Entwicklung in den Beziehungen. Steht man vor der Zerreissprobe?

J.R.: Ja. Die ständigen Vertreter der 27 Mitgliedstaaten werden im Dezember die neuen Schlussfolgerungen zu den Beziehungen mit der Schweiz verabschieden. 2008 und 2010 hatten sie klare Wege für die Zukunft des Bilateralismus festgelegt. 2012 werden sie unter anderen zu den Vorschlägen Stellung nehmen, welche die Schweiz im Juni in diesem Zusammenhang gemacht hat.

Diese werden als interessant, aber klar ungenügend beurteilt werden. Man kann ein doktrinäres Auseinanderdriften der Beziehungen feststellen; daher die Blockade. Nach dem Willen der EU sollte die Schweiz so grundsätzlich wie möglich die Spielregeln des Binnenmarkts übernehmen. Dem hält die Schweiz das Recht auf Verteidigung ihrer Souveränität entgegen.

swissinfo.ch: Ist es unmöglich, diese rote Linie zu überqueren?

J.R.: In der Schweiz auf jeden Fall. Dort operiert die «classe politique» mit Slogans, ohne sich über die langfristigen Folgen Gedanken zu machen. Man wiederholt, dass sich die EU im Veränderungsprozess befinde und sich die Geometrie ständig ändere.

Davon ausgehend glaubt man in der Schweiz, nichts zu verlieren, wenn man auf Zeit spielt, dass es auf jeden Fall gelingen werde, auf dem europäischen Schachbrett ein spezielles Feld zu besetzen.

Diese Vermutung ist falsch. Auch wenn sich die grossen politischen Verhältnisse ändern, wird die EU weiterhin Normen schaffen und diese in die ganze Welt exportieren. Ihren Willen, auch die Schweiz in ihren Binnenmarkt  – auch im institutionellen Bereich – einzufügen, wird sie nicht ändern.

swissinfo.ch: Und was bedeutet das?

J.R.: Man muss die gefährliche Sackgasse verlassen. Ein auf institutionelle Fragen beschränktes Feilschen führt zu nichts, angesichts der festgefahrenen Positionen der beiden Parteien. Man riskiert damit im Gegenteil, dass die Beteiligung der Schweiz am europäischen Binnenmarkt in Frage gestellt wird, worunter vor allem die Schweizer Wirtschaft zu leiden hätte. Man muss die Debatte ausweiten, und zwar jetzt.

swissinfo.ch: Wie soll das geschehen?

J.R.: Indem man, ohne zu zögern, die Idee eines Assoziations-Abkommens zwischen der EU und der Schweiz wieder ins Spiel bringt, indem man gleichzeitig eine sektorielle und institutionelle Dimension integrieren würde.

Es ginge darum, das Funktionieren der bilateralen Verträge besser zu regeln und gleichzeitig die Schweiz besser auf dem Binnenmarkt zu integrieren.

Gewisse Dossiers, wie jenes zur Strommarkt-Liberalisierung oder zum Markt für chemische Produkte, sind für Bern entscheidend. Ausserdem könnte mit der Zielvorgabe einer Wiederaufnahme der bilateralen Beziehungen ein echter politischer Dialog geknüpft werden.

swissinfo.ch: Entspricht dies nicht dem, was die Schweiz selber vorgeschlagen hat, als sie sich für eine «globale und koordinierte Vorgehensweise» aussprach?

J.R.: Das ist in der Tat die einzige vernünftige Lösung, auch für die EU. Aber die Schweiz muss im institutionellen Bereich mehr Beweglichkeit unter Beweis stellen. Sie muss das Schreckgespenst der «fremden Richter», welche die Souveränität bedrohen, entmystifizieren.

Früher oder später wird sie eine noch zu definierende, gewisse Vorherrschaft des europäischen Rechts unweigerlich anerkennen müssen.

Im Dezember 2010 erklären die ständigen Vertreter der 27 Mitgliedstaaten, dass der sektorielle bilaterale Weg «offenkundig seine Grenzen erreicht» habe.

Sie verlangen eine «dynamische» Anpassung der Abkommen an die Entwicklung des europäischen Rechts, eine homogene Anwendung der Regeln des Binnenmarktes, die auf der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs basiert, die Schaffung einer unabhängigen Instanz zur Überwachung und Durchsetzung der korrekten Anwendung sowie die Einsetzung einer Instanz zur Konfliktbeilegung.

Im Juni 2012 unterbreitet die Schweiz Vorschläge, die von der europäischen Kommission und der zypriotischen Präsidentschaft der EU zerpflückt werden. Ihre Positionen werden sich in den Schlussfolgerungen niederschlagen, welche die ständigen Vertreter der 27 Mitgliedstaaten vor Weihnachten verabschieden werden.

Bern teilt zwar die Ziele der EU. Aber die vorgeschlagenen Massnahmen sind aus Brüsseler Sicht ungeeignet.

Die Schweiz interessiert sich nur für künftige Abkommen (insbesondere für das Strommarkt-Abkommen); sie begrenzt die Fälle nicht, bei welchen sie nicht in der Lage wäre, EU-Recht zu übernehmen; sie möchte die Überwachung der Abkommen ihren eigenen Institutionen anvertrauen (der Wettbewerbskommission und dem Bundesgericht), deren Unabhängigkeit Brüssel bestreitet.

1940 in Montreux geboren, lebt Jean Russotto seit 1972 in Brüssel.

Er leitet dort die belgische Tochter von Steptoe & Johnson, eines der vier wichtigsten Anwaltsbüros in Washington.

Er ist Doktor der Rechte der Universität Lausanne, diplomiert am Europa-College in Brügge und an der Harvard Law School.

Spezialisiert ist Russotto auf Finanz-Dienstleistungen, Wettbewerbs- und Umweltrecht.

In dieser Funktion vertritt er in der EU-Hauptstadt auch gewisse Interessen der Schweiz, vor allem jene der Banken.

Er ist mit einer Amerikanerin verheiratet und hat zwei Kinder.

Bevor er auswanderte, arbeitete er im Justiz- und Polizeidepartement des Kantons Waadt und bei Nestlé in Vevey.

(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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