Die alten Netzwerke zerfallen
In der Vergangenheit kontrollierte in der Schweiz eine Handvoll von Führungskräften, die gleichzeitig in verschiedenen Feldern aktiv waren, die wichtigsten Machtzentren, vom Parlament bis hin zur Credit Suisse. Heute zeichnen Forscher ein anderes Bild der Macht in der Schweiz, ein viel weniger Schweizerisches.
Das Wort «Elite» fällt oft im Zusammenhang mit Athleten oder führenden Bildungsinstitutionen. Aber für Sozialwissenschafter ist der Ausdruck perfekt, wenn es um die mächtigsten Entscheidungsträger der Schweiz geht.
«Spricht man über Eliten, denken Leute manchmal, dass es um eine kleine Anzahl von Leuten geht, die in einem gewissen Bereich wirklich herausragend sind», erklärte Felix Bühlmann, Professor für Sozial- und Politikwissenschaften der Universität Lausanne, gegenüber swissinfo.ch. «Eigentlich geht das Wort Elite auf «élire» [Französisch für auslesen, N.d.R.] zurück. In den Sozialwissenschaften verstehen wir Eliten als Gruppen von Leuten, die Entscheide von grosser Bedeutung für ihre Gesellschaft fällen können.»
Bühlmann ist der Hauptautor von «Der Wandel der Eliten in der Schweiz»Externer Link, dem ersten Artikel einer Forschungsreihe unter dem Titel Social Change in Switzerland, die gemeinsam vom Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften (FORS), der sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Lausanne und dem Nationalen Forschungsschwerpunkt LIVES herausgegeben wird.
Für den ersten Beitrag in der Reihe analysierten Bühlmann und seine Kollegen eine Datenbank der Schweizer Eliten, die eine Zeitspanne von mehr als 100 Jahren abdeckt, um sich ein Bild der beruflichen Aktivitäten und Verbindungen dieser Führungskräfte zu verschaffen: Dabei zeigte sich, dass die Schweizer Eliten des 20. Jahrhunderts generell den gleichen Sozial- und Bildungshintergrund hatten, während die heutigen Führungskräfte viel unterschiedlicher und voneinander unabhängig sind.
«Seit den 1990er-Jahren sieht man viel weniger Verbindungen zwischen den verschiedenen Führungsbereichen in der Schweiz», sagte Bühlmann. «Wir befinden uns in einer Übergangsphase und wissen nicht wirklich, in welche Richtung die Dinge sich entwickeln werden.»
Nur für Mitglieder
Die Datenbank über Schweizer Eliten enthält 20’000 Einträge mit Angaben über die persönliche und berufliche Geschichte von Schweizer Führungskräften aus Politik, Wirtschaft, Verwaltung und Wissenschaft in der Zeit zwischen 1910 und 2010. Datenproben, die je 20 Jahre auseinander lagen, zeigten, dass Führungskräfte in der Schweiz während des grössten Teils des 20. Jahrhunderts wohlhabend, sehr gut ausgebildet, männlich – und natürlich – Schweizer Bürger waren.
Gehörte jemand in einem Bereich einmal zur Elite, zeigte sich, dass sein Name wahrscheinlich auch in anderen Bereichen wieder auftauchen würde. So hatten 1957 zum Beispiel 19,5% der Parlamentsabgeordneten auch einen Sitz im Verwaltungsrat in einem der grössten 110 Schweizer Unternehmen.
Sozialwissenschafter sprechen von «Milizsystem», wenn Mitglieder des Parlaments neben dem politischen Mandat ihre beruflichen Aufgaben weiterhin wahrnehmen.
Dies erkläre, weshalb Mitglieder des Schweizer Parlaments eng mit Wirtschaftsverbänden oder Unternehmensvorständen verhängt waren, sagte André Mach, Co-Autor des oben erwähnten Artikels und Professor an der Universität Lausanne. «Viele dieser Führungskräfte hatten auch in der Armee eine höhere Position inne.»
Dies mag für eine einzelne Person wie eine unmögliche Arbeitsbelastung klingen, war aber vielleicht früher nicht so extrem, wie es heute sein mag.
«Die Belastung der Parlamentsmitglieder hat zugenommen», erklärte Mach. «Der legislative Prozess ist viel komplexer geworden, und der grösste Teil ihrer Zeit gilt heute wirklich dem politischen Mandat. Früher war dies viel weniger der Fall.»
Kümmere Dich um Dein Geschäft
Die wachsende Belastung der parlamentarischen Arbeit ist jedoch nur ein Faktor der Erosion der alten Netzwerke der Führungskräfte, auch Geld spielte eine grosse Rolle. Zwischen den Spitzenpositionen der wichtigsten Banken und den Verwaltungsräten grosser Unternehmen gab es früher eine grosse Überlappung, doch seit Mitte der 1990er-Jahre sind diese Verbindungen schwächer geworden.
«Mit der Liberalisierung der Finanzmärkte haben die Aktienmärkte im Verlauf der letzten 30 Jahre das Tempo gesetzt», sagte Bühlmann. «Das sieht man auch in der Schweiz, und diese Art Kapitalismus schaffte neue Formen der Koordination.»
Mach sagte, die allmähliche Entflechtung der Führungskräfte von Banken und anderen Unternehmen sei keine Einbahnstrasse.
«Banken waren immer weniger häufig im Verwaltungsrat von industriellen Unternehmen vertreten, weil ihre Einnahmen statt aus Kreditaktivitäten vermehrt aus dem Investitionsgeschäft auf den Finanzmärkten kamen, das viel lukrativer geworden war», sagte Mach. «Gleichzeitig setzten die grössten Schweizer Firmen zur Finanzierung vermehrt auf Aktienmärkte und weniger auf Kredite von Banken.»
Macht, Politik und Vermögen hatten ohne Frage einen starken Einfluss auf die Netzwerke und Seilschaften der Eliten in der Schweiz. Die Forscher identifizierten aber auch noch einen subtileren Einfluss: soziale Erwartungen.
«Die Idee, dass jemand verschiedene Entscheidungspositionen gleichzeitig einnimmt, wurde von Medien und der öffentlichen Meinung immer weniger akzeptiert», sagte Mach. «Das Argument ist, dass jemand, der gleichzeitig mehrere Positionen einnimmt, seine Arbeit nicht wirklich gut erledigen kann.»
Alt gegen Neu
Eine der dramatischsten Veränderungen bei den Schweizer Eliten war die Globalisierung der Wirtschaft. Bis in die 1990er-Jahre war die Kontrolle multinationaler Schweizer Unternehmen generell in Schweizer Händen gelegen. 1980 lag der Anteil von Ausländern, die bei den 110 grössten Schweizer Firmen Top-Managementpositionen besetzten, bei 3,7%. Bis ins Jahr 2010 stieg dieser Anteil auf 35%. Der Finanzriese Credit Suisse mit dem ehemaligen CEO, dem Amerikaner Brady Dougan, und dessen Nachfolger Tidjane Thiam, der in der Côte d’Ivoire geboren wurde, ist ein klares Beispiel für diesen Wandel.
Andere Führungsbereiche zeigten sich gegenüber einem Wandel resistenter. Stéphanie Ginalski, Co-Autorin und Sozialwissenschafterin an der Universität Lausanne, erklärte, das Frauenstimmrecht habe in der Schweiz Frauen ab den 1970er-Jahren vermehrt Zugang zu politischen Machtpositionen ermöglicht, die Wirtschaft hinke bei der Gleichstellung der Geschlechter hingegen noch immer hinter her.
«Im Bereich Politik setzte nach 1971, als Frauen das Stimmrecht erhielten und auf Bundesebene gewählt werden konnten, ein wichtiger Wandel ein», sagte Ginalski. «In der Wirtschaft jedoch verändern sich die Dinge nur langsam.» In der Tat lag der Anteil weiblicher Eliten in der Wirtschaft im Jahr 2010 bei nur 10%, verglichen mit 27,6% in der Politik.
Abwarten und sehen
Die Forscher erklärten, sie wollten die Entwicklung im Blick behalten und würden in Intervallen von fünf bis zehn Jahren weiterhin Daten über Schweizer Führungskräfte unter die Lupe nehmen und analysieren, um neue Muster zu identifizieren. Bis neuere Daten erfasst werden, bleibt es schwierig, die künftige Rolle der Eliten in der Schweiz vorauszusagen. Mit der Artikelserie Social Change in Switzerland sollten Forschende und Öffentlichkeit sich aufgrund der Geschichte aber vermehrt einen Einblick verschaffen können.
«Wer fand, das alte System der Eliten sei ein gutes System gewesen, würde sagen ‹wir können rasch reagieren, weil wir einander so nahe stehen; wenn wir bedeutende Entscheide fällen müssen, können wir dies in einer kleinen Gruppe tun, und damit läuft unsere Gesellschaft rund› «, sagte Bühlmann. «Andererseits war das Funktionieren dieser Elite nicht transparent. Es stand in völligem Widerspruch zu demokratischen Prinzipien.»
Mach hielt fest, durch die Volksinitiative gegen Masseneinwanderung sei es noch schwieriger geworden, den weiteren Wandel der Eliten in der Schweiz vorherzusehen. Seit Annahme der Initiative am 9. Februar 2014, die im Widerspruch steht zum freien Personenverkehr mit der EU, versucht die Schweiz, mit der EU über einen Ausweg zu verhandeln.
«Unter den Top-Managern der grossen Unternehmen findet man eine wirklich internationalisierte Elite. Das Gleiche gilt für den akademischen Bereich: Der Anteil ausländischer Professoren in der Schweiz zählt zu den höchsten in Europa», sagte Mach. «Gleichzeitig haben im politischen Bereich konservative Parteien Erfolg, die einer Internationalisierung gegenüber weniger offen sind. Diese zwei Trends sind wirklich ziemlich gegensätzlich.»
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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