Waffenexport und humanitäre Tradition: wie anno 1914!
Der Wunsch der Schweizer Regierung, die Regeln für Waffenexporte zu lockern, ruft zahlreiche Kritiken hervor. Viele verweisen auf den Widerspruch zwischen dieser Politik und dem humanitären Image der Schweiz. Die Debatte um dieses Paradox sei seit dem Ersten Weltkrieg wiederkehrend, erklärt der Historiker Cédric Cotter, Autor einer aktuellen Arbeit zu diesem Thema.
Die Parallele zu den aktuellen Ereignissen ist augenfällig. Nach zahlreichen historischen Arbeiten zu diesem Thema kommt Cédric Cotters in seiner Arbeit – (Sich)Helfen, um zu überleben – Humanitäres Handeln und Schweizer Neutralität im Ersten Weltkrieg* – im Detail auf diesen für die damalige junge Schweiz von 1848 entscheidenden und brutalen Moment zu sprechen.
Die Neutralität der Eidgenossenschaft wurde damals international respektiert, dies im Unterschied zu Belgien, das sich ebenfalls als neutral erklärt hatte. Die Ausführungen, die den Waffenexporten der Schweiz an die Kriegsparteien gewidmet sind, zeigen Realitäten und Argumente, die in der aktuellen Debatte wieder zu finden sind.
Heute wie damals liefert die neutrale Schweiz den Kriegsparteien offiziell keine Waffen. Diese Regel wurde in der Haager Konventionen von 1907 festgelegt.
Der Krieg, der wegen seiner Heftigkeit, der zunehmenden Zerstörungskraft der eingesetzten Waffen und seiner Dauer alle überraschte, führte jedoch zu einer starken Nachfrage nach Munition, welche die Schweizer Industrie in grossen Mengen produzieren konnte. Die Schweiz fand einen Weg, diese wachsende Nachfrage zu befriedigen.
Wie? «Obwohl die Schweiz ab August 1914 nach internationalem Recht keine Munition mehr exportieren darf, steht dem Export von Munitionsteilen (Messingteile, Gusseisen, Schmiedeeisen, Bolzen usw.) nichts im Weg. Dank diesem Kunstgriff kann die Schweiz Millionen von Patronen an die Kriegsparteien liefern», schreibt Cotter.
«Einerseits töten, andererseits pflegen»
Der Historiker erinnert daran, dass 1917 die Munitionsexporte 300 Millionen Franken erreichten (was heute rund 3 Milliarden Franken entspräche). Das entsprach 13% aller Schweizer Exporte in diesem Jahr. 1916 beliefen sich die Munitionsexporte auf 210 Millionen Franken.
Gleichzeitig gelang es dem IKRK, seinen Einfluss zu stärken, um auf die immensen humanitären Bedürfnisse des Krieges zu reagieren, insbesondere den Schutz der Kriegsgefangenen – eine Leistung, die von den Kriegsparteien anerkannt wurde.
«Diese zweideutige Haltung der Schweiz, die mit der einen Hand Munition verkauft und mit der anderen den Opfern des Krieges hilft, provoziert Kritik», schreibt Cotter. Diese kam insbesondere aus den USA, die bis zu ihrem Einschreiten 1917 ebenfalls neutral waren. «Laut einer Schätzung des amerikanischen Konsuls in Bern ging ein Drittel der Schweizer Exporte nach Deutschland, der Rest hauptsächlich nach Frankreich und Italien.»
Auch in der Schweiz wurde bereits ab 1915 über den Export von Munition diskutiert. Davon zeugt die Satirezeitschrift L’Arbalète (Armbrust), die der Munitionsfabrik im Dezember 1917 eine Sonderausgabe widmet und diese dem humanitären Engagement der Schweiz gegenüberstellt. Eine der Karikaturen hebt das «Schweizer Paradoxon» hervor, indem es Krankenschwestern des Roten Kreuzes und Chefs der Munitionsfabrik zeigt. Eine andere trägt den Titel: «Einerseits tötet man sie, andererseits pflegt man sie.»
«Obwohl sich der Bundesrat der Beteiligung der Schweizer Industrie an der Herstellung von Munition bewusst ist, beschliesst er, diese nicht zu verbieten. Er zieht es vor, diese Praxis fortzusetzen und Tausenden von Arbeitnehmern einen Arbeitsplatz zu geben, anstatt diese Praxis im Detail zu untersuchen», erinnert sich Cotter.
Der Historiker erwähnt das Beispiel des Genfer Automobilherstellers Pic-Pic, der einen Teil seiner Tätigkeit schnell auf die Herstellung von Granatenzündern für die britische und französische Armee umstellte.
«Im Januar 1917 produzieren die Werkstätten von Piccard & Pictet 200’000 Zündvorrichtungen pro Woche für England. Von den 7500 Mitarbeitern des Unternehmens sind 1500 Frauen in der Munitionsfabrik beschäftigt, wo sie zwischen 35 und 40 Cent pro Stunde verdienen. Die Werkstätte verkauft gleichzeitig andere Artikel an das amerikanische Rote Kreuz.»
Der Direktor des Unternehmens, Guillaume Pictet, trat 1919 dem Komitee des IKRK bei. Dieses Zirkulieren der Eliten zwischen der Wirtschaft, der Schweizer Regierung und dem IKRK hat seither nie wirklich aufgehört.
+ Das IKRK, ein Vehikel von Schweizer Interessen?
Cotter schreibt: «In Tat und Wahrheit kommt die Schweiz mit diesem Widerspruch sehr gut zurecht; der Grosse Krieg ist charakteristisch für die Schweizer Haltung. Das gleiche Phänomen findet sich in vielen anderen Konflikten. Die gleichzeitige Existenz einer Industrie, die Waffen und humanitäre Werke herstellt, hat in der Schweiz beinahe ‹Tradition›.»
Zauberformel für den Erfolg
Wie andere Historiker kommt Cotter zum Schluss, dass Bern am meisten vom freundlichen Image der Schweiz profitierte, das durch das IKRK geprägt wird, obwohl der Bund auch finanziell dazu beitrug, dass sich das Genfer Komitee gegen andere humanitäre Organisationen durchsetzen konnte. Alle neutralen Länder versuchten, sich in humanitären Aktionen für ihre legitimierenden Tugenden zu profilieren, um nicht als reine Kriegsprofiteure dazustehen.
Die Schweiz von damals war gespalten zwischen Anhängern der Zweiten Französischen Republik und Anhängern des Zweiten Deutschen Reiches. Mit einem von der preussischen Armee faszinierten Militärstab, stand sie im Verdacht, mit Deutschland zu sympathisieren. Der mit der Familie Bismarck verwandte General Ulrich Wille, der 1914 vom Schweizer Parlament ernannt worden war, plädierte zu Beginn des Krieges dafür, dass die Schweiz auf der Seite Deutschlands in den Krieg zieht.
Zudem stand die Schweiz, wie andere Länder Europas auch, unter Druck aufgrund sozialer Konflikte. Letztere waren in den Augen der Konservativen eine Folge der bolschevistischen Revolution. Dennoch gelang es der Schweiz 1919 gestärkt aus der Kriegszeit zu gehen, mit Gustave Ador, der gleichzeitig Bundespräsident und IKRK-Präsident war.
Auf dieser Grundlage erhielt Genf den Sitz des Völkerbundes und schloss sich diesem mit der Unterstützung einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger an. Die Schweizer Zauberformel hatte die Bewährungsprobe auf internationaler Ebene bestanden.
An die Qualität dieser edlen Legierung erinnert der amtierende IKRK-Präsident Peter Maurer die eidgenössischen Behörden in der aktuellen Rüstungsdebatte. Die Ambiguität der Schweiz ist vielleicht nicht zu überwinden; der eklatante Widerspruch droht die gesamte Formel zu brechen, sagen viele Stimmen im internationalen Genf.
Und das zu einem Zeitpunkt, da die Welt einem neuen Kräftemessen der Mächte und einer besorgniserregenden Schwächung des multilateralen Systems beiwohnt, das die Mächte eigentlich zügeln sollte.
Ehre oder Schande?
Der erste Friedensnobelpreis wurde 1901 an den Begründer des Roten Kreuzes, Henry Dunant, verliehen.
Laut der bekannten Pazifistin, Baroness Bertha Sophie Felicitas Freifrau von Suttner (1843-1914), selbst 1905 ausgezeichnet, hatte der Gründer des Roten Kreuzes den Krieg nur verbessert und das Norwegische Komitee durch die Auszeichnung Dunants die letzten Wünsche von Alfred Nobel verraten.
* im Original: «(S’)Aider pour survivre – Action humanitaire et neutralité suisse pendant la Première Guerre mondiale»
(Übertragung aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)
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