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Überraschend klares Ja für erweiterte Gentests an Embryos

Die Schweiz soll keine Insel mehr sein, was Prämimplantationsdiagnostik (PID) betrifft: Diese Meinung fand am Sonntag eine klare Mehrheit bei den Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürgern. Keystone

Der Weg zur Präimplantationsdiagnostik (PID) ist eröffnet: Das Schweizer Stimmvolk hat die Verfassungsänderung, die die Grundlage legt für die Untersuchung künstlich befruchteter Embryos vor der Einpflanzung in den Mutterleib, mit 61,9% angenommen. Auch das für Verfassungsänderungen nötige Ständemehr wurde klar erreicht: Von den 23 Standesstimmen entfielen 17 ganze und drei halbe auf die Vorlage.

Die Gegner kamen auf 38,1%. Die Stimmbeteiligung lag bei 43,5%. Die Umfragen vor dem Urnengang hatten noch auf eine enge Entscheidung hingedeutet. 

Bundesrat Alain Berset zeigte sich mit dem Ausgang sehr zufrieden. Dieser sei deutlicher ausgefallen als erwartet. Doch Paare, welche die neue Technologie in Anspruch nehmen wollten, könnten dies «noch nicht morgen tun.» Der Gesundheitsminister geht aber davon aus, dass gegen das Ausführungsgesetz das Referendum ergriffen wird. Tatsächlich haben kirchliche Kreise dies bereits angekündigt. Berset rechnet mit einem entsprechenden Urnengang für nächstes Jahr.

Die neue Bestimmung in der Verfassung bildet die Grundlage zur Anwendung der Präimplantationsdiagnostik (PID) auch bei künstlich erzeugten Embryos ausserhalb der Gebärmutter. Es geht unter anderem auch für Embryos, die im Reagenzglas «gezeugt» werden. Das ausgeweitete Verfahren soll erblich vorbelasteten Eltern helfen, dass sie gesunde Kinder haben können.

Dazu dürfen künftig bei einer künstlichen Befruchtung so viele Embryonen hergestellt werden, wie für die medizinisch unterstützte Fortpflanzung notwendig sind. Bisher lag die maximale Embryonenzahl bei drei.

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Nun fiel die Abstimmung deutlicher aus als erwartet. Rund 1’377’300 Personen legten ein Ja in die Urne, 847’000 sagten Nein. Die Stimmbeteiligung lag bei 43,5 Prozent. Bei der letzten Umfrage Ende Mai hatten die Befürworter noch einen so geringen Vorsprung gehabt, dass keine Prognose möglich war.

Graben West-Ost

Von den 23 Standesstimmen entfielen 17 ganze und 3 halbe auf die Verfassungsänderung. Geschlossen und mit grossen Mehrheiten stimmte die Westschweiz der Verfassungsänderung zu: In der Waadt sagten 84,4% Ja, in Genf 82,2%, in Neuenburg 75,2%. Der erste Deutschschweizer Kanton im Ja-Lager ist Zürich mit 64,8% Ja.

Skeptisch waren kleine und ländliche Kantone. Mit 55,8% Nein-Stimmen lehnte Obwalden die Präimplantationsdiagnostik am deutlichsten ab, gefolgt von Appenzell Innerrhoden mit 55,5%.

Die Vorlage spaltete nicht nur die Landesteile, sondern auch die Parteien. Gegen den Widerstand kirchlicher Kreise hatten die Christlichdemokraten (CVP) Annahme empfohlen, ebenso die Freisinnigen (FDP) und die bürgerlichen Demokraten (BDP. Die Sozialdemokraten (SP)  beschlossen Stimmfreigabe, während die Schweizerische Volkspartei (SVP) trotz vieler befürwortender Stimmen die Nein-Parole ausgab.

Mit dem nun vorgezeigten Weg wird auch dem so genannten PID-Tourismus ein Riegel geschoben. Viele Frauen in der Schweiz umgehen heute die strengen Schweizer Gesetze, indem sie sich im Ausland behandeln lassen. Und schliesslich wird der Widerspruch aufgelöst, dass Embryos zwar nicht im Reagenzglas, aber später im Mutterleib untersucht werden dürfen. Geschädigte Embryos werden dann oft abgetrieben, weshalb von «Schwangerschaft auf Probe» die Rede ist.

Das Verfahren soll aber nicht nur erblich vorbelasteten Eltern offenstehen. Vielmehr sollen alle Paare, die auf Methoden der künstlichen Befruchtung zurückgreifen, die Embryos vor der Einpflanzung in den Mutterleib auf Anomalien betreffend der Chromosomen untersuchen lassen dürfen. Damit würde die Schweiz auf einen Schlag zu den liberalsten Ländern Europas gehören.

Bischöfe warnen vor «negativen Folgen»

Nach dem Ja von Volk und Ständen zum PID-Verfassungsartikel haben die Schweizer Bischöfe vor negativen Folgen gewarnt. Es bedeute einen Rückschritt «für die Wahrung des vollständigen Schutzes des menschlichen Lebens von seinem Anfang bis zu seinem Ende, von der Zeugung bis zum natürlichen Tod», schrieb die Schweizerische Bischofskonferenz in einer Mitteilung.

Die Verfassungsänderung öffne den Weg für die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik. «Mit ihr wird nicht die Krankheit behandelt, sondern diese umgangen, indem die Embryonen als Träger der Krankheit beseitigt werden», hiess es. Das sei nicht zu rechtfertigen. Die Bischöfe verurteilten die Präimplantationsdiagnostik als «Selektionstechnik, bei der man sich das Recht anmasst zu entscheiden, wer es verdient zu leben und wer nicht».

Genetische Diagnostik in der Schweiz

In der Schweiz nehmen jedes Jahr rund 6000 Paare künstliche Befruchtung in Anspruch, aus der etwa 2000 von insgesamt rund 80’000 Babies hervorgehen, die in der Schweiz geboren werden.

Die Verfassung erlaubt gegenwärtig, dass nur so viele menschliche Eizellen ausserhalb des Körpers der Frau zu Embryonen entwickelt werden dürfen, als ihr sofort eingepflanzt werden können. In der Praxis sind es drei. Neu dürfen es so viele sein, als für das Fortpflanzungsverfahren notwendig sind. Das können bis zu 12 sein.

Im Fall von unheilbaren Krankheiten und genetischen Anomalien wie das Down Syndrom sind diagnostische Untersuchungen an Föten in der Gebärmutter bereits erlaubt. Abtreibungen sind bis zur 12. Woche erlaubt.

Wenn die Verfassungsänderung durchkommt, wären die gleichen Diagnosetests auch an künstlich befruchteten Embryonen erlaubt, und zwar vor der Schwangerschaft.

Heute können Abklärungen über Erbkrankheiten erst während der Schwangerschaft im Rahmen pränataler Untersuchungen vorgenommen werden. Oft sehen sich betroffene Paare dadurch vor die schwierige Entscheidung gestellt, ob sie die Schwangerschaft abbrechen sollen oder nicht. Dank der PID können Embryonen ohne Hinweis auf die Erbkrankheit der Eltern eingesetzt werden.

Die Verfassungsänderung würde auch das Aufbewahren von Embryonen für einen späteren Transfer zulassen.

Mit der geltenden Regelung müssen alle entwickelten Embryonen in den Mutterleib übertragen werden. Dies sind häufig zwei oder sogar drei Embryonen. Dadurch häufen sich Mehrlingsschwangerschaften, die ein erhebliches Risiko für Mutter und Kinder darstellen. Wird nur ein einziger Embryo ausgewählt und eingesetzt, können Zwillings- und Drillings-schwangerschaften reduziert werden.

Die Verfassung verbietet weiterhin, Embryonen aufgrund ihres Geschlechts oder anderer Körpermerkmale gezielt auszuwählen oder sogenannte Retterbabies zu erzeugen, die sich als Stammzellenspender für ein schwerkrankes Geschwister eignen.

(Quelle: Bundesamt für Gesundheit) 

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