Strafgerichte ermitteln gegen den Kreml
Der Internationale Strafgerichtshof hat eine Untersuchung gegen Russland eröffnet. Auch andere Gerichte befassen sich mit dem Krieg in der Ukraine. Wie stehen die Chancen, dass Putin zur Rechenschaft gezogen wird?
Auf Ersuchen von 39 Mitgliedstaaten inklusive der Schweiz hat der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) eine Untersuchung gegen Russland eingeleitet. Es ist das einzige internationale Gericht, der Personen wie Wladimir Putin strafrechtlich zur Verantwortung ziehen könnte. Zudem hat die Ukraine vor dem Internationalen Gerichtshof (IGH) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte Klage eingereicht.
Die Ukraine habe nach der russischen Invasion schnell und eindrucksvoll «lawfare» betrieben, sagt Sergey Vasiliev, ein russisch-niederländischer Experte für internationales Strafrecht an der Universität Amsterdam. «Wahrscheinlich ging dies nur dank internationaler Anwälte und der Diaspora.»
Die Frage ist, wie schnell und effektiv die Gerichte aktiv werden, denn die Verfahren benötigen Zeit. Anfang letzte Woche hat der IGH den Fall der Ukraine angehörtExterner Link. Kiew behauptet, dass Russland die UNO-Völkermordkonvention von 1948 vorsätzlich missbraucht und verletzt habe. Russland habe die Ukraine fälschlicherweise des Völkermords an der russischsprachigen Minderheit in der Donbass-Region beschuldigt, um einen Vorwand für die Invasion zu erhalten, steht in der Erklärung.
Definitive Beschlüsse könnten zwar Jahre dauern, doch Cecily Rose, IGH-Expertin an der Universität Leiden in den Niederlanden, erwartet innerhalb der nächsten ein bis zwei Wochen «vorläufige Massnahmen». «Im Wesentlichen wird das Gericht wohl Russland dazu auffordern, seine Invasion zu stoppen.»
Wie würde Russland reagieren? «Eher gleichgültig», denkt Marco Sassoli, Professor für internationales Recht an der Universität Genf. «Es scheint, als würde sich Russland nicht mehr um das Völkerrecht kümmern.» Dennoch sei der Schritt wichtig, denn andernfalls könnten «Revisionisten später sagen, dass Putin recht hatte».
Auch Cecily Rose ist eher pessimistisch: Sie denkt nicht, dass eine Anordnung des IGH die russische Militärmaschinerie sofort stoppen könnte. «Aber sie könnte bei Waffenstillstands- und Friedensverhandlungen eine Rolle spielen.»
Der Europäische Gerichtshof als drittes Organ für Menschenrechte hat bereits vorläufige Massnahmen erlassen und Russland dazu aufgefordert, «militärische Angriffe auf Zivilisten und zivile Einrichtungen» sowie andere Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht zu unterlassen.
Der Internationale Gerichtshof (IGH) hat seinen Sitz in Den Haag in den Niederlanden und ist das höchste Gericht der Vereinten Nationen. Er entscheidet über Streitigkeiten zwischen Staaten auf der Grundlage internationaler Verträge und Konventionen. Er kann keine Einzelpersonen strafrechtlich verfolgen. Seine Urteile sind bindend, aber er verfügt über keinen Durchsetzungsmechanismus.
Auch der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) hat seinen Sitz in Den Haag. Er wurde 2002 auf Grundlage des Römischen Statuts geschaffen. Er ist kein UNO-Gericht, zählt aber viele UNO-Staaten als Mitglieder, allerdings nicht die USA, China, Russland oder die Ukraine. Die Ukraine hat aber nach der russischen Annexion der Krim im Jahr 2014 seine Zuständigkeit anerkannt. Der IStGH kann unter bestimmten Umständen Einzelpersonen wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord verfolgen. Im Jahr 2017 führte er auch Aggressionsverbrechen ein, dessen Verfolgung aber nur unter bestimmten Bedingungen möglich ist. Das Gericht kann internationale Haftbefehle gegen Einzelpersonen ausstellen, ist aber darauf angewiesen, dass die Mitgliedstaaten sie festnehmen.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat seinen Sitz in Strassburg in Frankreich und ist nicht mit dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) in Luxemburg zu verwechseln. Er wurde 1959 gegründet und entscheidet über Beschwerden von Einzelpersonen oder Staaten, die Verstösse gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) geltend machen. Sowohl Russland als auch die Ukraine haben die Konvention ratifiziert. Die Entscheidungen des Gerichtshofs sind bindend, aber auch hier existiert kein Durchsetzungsmechanismus.
«Der Kreml ist eindeutig der Aggression schuldig»
Weder Russland noch die Ukraine sind Mitglieder des Internationalen Strafgerichtshofs, aber die Ukraine hat dessen Zuständigkeit nach der Krim-Annexion durch Russland im Jahr 2014 anerkannt. Der Gerichtshof kann Einzelpersonen wegen Völkermordes, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen verfolgen.
2017 führte der IStGH auch den Straftatbestand des Aggressionsverbrechens ein. Jedoch kann das Gericht nur tätig werden, wenn beide betroffenen Staaten Mitglieder sind, was hier nicht der Fall ist, oder wenn eine Überweisung durch den UNO-Sicherheitsrat vorliegt, in dem Russland aber ein Vetorecht hat. Der IStGH könnte also nur bei den anderen Vergehen aktiv werden.
Putin sei eindeutig der Aggression schuldig, sagt Marco Sassoli, aber Kriegsverbrechen seien nur schwer nachweisbar, weil ein «direkter Zusammenhang zwischen der Person und dem absichtlichen Angriff auf die Zivilbevölkerung nachgewiesen werden muss».
Erschwerend sei hierbei, dass die Ukraine Zivilisten ermutigt habe, selbstgemachten Sprengstoff herzustellen. «Und wenn Zivilisten russische Soldaten angreifen, werden sie gemäss humanitärem Völkerrecht zu legitimen Zielen», sagt er. Die Ukraine verstösst auch gegen das Völkerrecht, indem sie russische Kriegsgefangene in den sozialen Medien zur Schau stellt.
Doch die Vorwürfe gegen Russland wiegen schwer: Die Invasoren sollen Wohnhäuser angegriffen, verbotene Waffen eingesetzt und Einrichtungen in der Nähe von Atomanlagen angegriffen haben. Zudem gibt es Berichte von Vergewaltigungen. Die ukrainischen Flüchtlinge, inzwischen sind es rund zwei Millionen, werden zweifellos ihre Geschichten zu erzählen haben, auch vor den Gerichten.
Der Internationale Strafgerichtshof habe sich in Bezug auf die Ukraine bisher im Schneckentempo vorwärtsbewegt, sagt Vasiliev. Das Gericht habe zwar 2014 eine «Voruntersuchung» zur Situation im Land eingeleitet, diese aber bislang nicht priorisiert. IStGH-Chefankläger Karim Khan erklärte Ende Februar, dass nun klar die Annahme getroffen werden müsse, dass in der Ukraine «mutmassliche Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden sind». Nun soll die Untersuchung auf alle Regionen ausgeweitet werden. Dafür seien aber mehr Ressourcen nötig: «Die Bedeutung und Dringlichkeit unserer Mission ist zu gross, als dass sie durch fehlende Mittel beeinträchtigt werden darf», betonte Khan.
Laut Vasiliev hat der IStGH bereits Ermittler in der Region, obwohl nicht klar ist, ob diese in Nachbarstaaten wie Polen, wo die Flüchtlinge ankommen, oder in der Ukraine selbst tätig sind. Sassoli findet, dass dies eine Chance für den IStGH sei, seine Glaubwürdigkeit zu erhöhen. «Zugleich muss er vorsichtig sein: Wenn er in Bezug auf die Ukraine schnell handelt, aber etwa bei Gaza, Afghanistan oder Georgien weiterhin zögert, wird man ihm vorwerfen, dass er vom Westen unter Druck gesetzt wurde.»
Könnte Putin verhaftet werden?
Auf die Frage, ob der IStGH es wagen könnte, einen Haftbefehl gegen den russischen Präsidenten auszustellen, antwortet Sassoli, dass der IStGH in der Vergangenheit recht mutig gewesen sei: So habe er etwa in Afghanistan Verbrechen untersucht, die angeblich von US-Streitkräften und ihren Verbündeten verübt wurden. Sassoli hält es jedoch für wahrscheinlicher, dass die am leichtesten zu beweisenden Kriegsverbrechen von «armen russischen Rekruten» begangen wurden, die aufgrund der Kreml-Propaganda glaubten, sie würden in der Ukraine einen Genozid verhindern.
Vasiliev vermutet, dass es eines Tages einen IStGH-Haftbefehl gegen Putin geben könnte. «Dieser würde aber wohl im Geheimen ausgestellt, um die Lage vor Ort nicht zu verschlimmern.» Doch als amtierendes Staatsoberhaupt, dessen Land kein Mitglied des IStGH ist, geniesst Putin grundsätzlich diplomatische Immunität. Deshalb könnte der IStGH kein Ersuchen an die Mitgliedsstaaten richten, Putin zu verhaften. Der IStGH hat keine Polizeikräfte und ist bei der Durchführung von Festnahmen auf seine Mitglieder angewiesen.
Sollte Putin also zu Friedensgesprächen nach Genf reisen, würde er wohl nicht verhaftet werden. Vasiliev hält eine Festnahme für unwahrscheinlich, solange der russische Präsident nicht aus dem Amt scheidet.
Experte fordert konzentrierte Aktion
Putin und sein Gefolge sollten bei Reisen dennoch vorsichtig sein. Der Grundsatz der «universellen Gerichtsbarkeit», den zahlreiche Staaten einschliesslich der Schweiz in ihren Gesetzen verankert haben, erlaubt es den Staaten, mutmassliche Täter von internationalen Verbrechen auf ihrem Staatsgebiet festzunehmen und vor inländischen Gerichten zu verurteilen. Die Niederlande haben auch das Verbrechen der Aggression in diesen Grundsatz aufgenommen.
Auch russische Oligarchen werden vorsichtiger sein, mutmasst Sassoli, «etwa, wenn sie in bestimmte Länder reisen oder ihre Kinder auf Schweizer Schulen schicken». Auch sie könnten verfolgt werden. «Jedenfalls erhöht sich der Druck auf den russischen Präsidenten.»
Inzwischen hat der UNO-Menschenrechtsrat in Genf die Einsetzung einer dreiköpfigen Untersuchungskommission bekanntgegeben. Sie sollen Menschenrechtsverstösse untersuchen, Verantwortliche ermitteln und Beweise für künftige Gerichtsverfahren sichern. Der Menschenrechtsrat ist kein Gericht, könnte aber bei der Einleitung von Verfahren helfen. Auch die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa führt Ermittlungen durch.
Vasiliev fordert nun eine konzentrierte Aktion, da die Ressourcen und das Mandat des IStGH eher begrenzt seien. «Die Akteure sollten ihre Anstrengungen bündeln, um Beweise für die zentralen Verbrechen in der Ukraine zu sammeln und aufzuarbeiten», schrieb er kürzlich in einem Blogeintrag. «Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber sie sind in Gang gesetzt worden.» Dies sei weniger ein Trost, als vielmehr ein Aufruf zum Handeln.
(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
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