Warum flirten Einwanderer mit der Rechten?
Der Begriff "Direkte Demokratie" erhält eine neue Bedeutung, wenn man Schweizer Bürgerin oder Bürger wird. Man hat beispielsweise die Wahl, welche Partei man unterstützen will. Doch kann die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP), die hinter diversen Initiativen gegen Einwanderung steht, auch Eingebürgerte ansprechen?
Es ist die erste Woche der Frühjahrssession der Eidgenössischen Räte. Die Türe des Nationalratssaals öffnet sich und SVP-Präsident Toni Brunner kommt herüber und schüttelt mir die Hand.
Die SVP, treibende Kraft hinter den Initiativen zur Ausschaffung krimineller Ausländer, für ein Minarett-Bauverbot und jener zur Begrenzung der Zuwanderung, die am 9. Februar 2014 angenommen wurde, hat den Ruf, ausländerfeindlich zu sein. Zu Recht?
«Nein, ganz und gar nicht!», sagt Brunner. Er lehnt sich vornüber, sein Gesichtsausdruck ist ernst. Ausländer seien «sehr willkommen» in der Partei, betont er. Die Mitgliedschaft in der Partei biete Einwanderern die Möglichkeit, «ein Gefühl für die Demokratie zu erhalten und diese mitzugestalten».
Die Partei erhalte eine Menge Unterstützung von Ausländern in der Schweiz, sagt Brunner – besonders von jungen Ausländerinnen und Ausländern der zweiten Generation. Auch wenn es keine nationalen Statistiken bei der Partei gibt, sagt Brunner: «Ich weiss, dass das stimmt, weil ich oft an Parteigründungen gehe.»
Anziehungskraft bei Einwanderern
Eine Eingewanderte, welche die Partei unterstützt, ist SVP-Nationalrätin Yvette Estermann. Sie ist unter dem totalitären Regime in der damaligen Tschechoslowakei aufgewachsen und kam 1993 in die Schweiz.
Estermann leitet die 2010 gegründete politische Gruppe «Neue Heimat Schweiz», die Ausländer anspricht – eingebürgert oder nicht –, welche ihr Engagement für die Schweiz zeigen wollen.
Auch wenn die Gruppe parteiunabhängig ist und auf ihrer Website nur wenige Hinweise auf die SVP zu finden sind, reflektiert diese dennoch die Parteilinie. Im Juni 2011 nahmen etwa 140 Personen am ersten Symposium der Gruppe teil, an dem der politisch rechts anzusiedelnde Zeitungsmacher Roger Köppel zum Thema «Einwanderung Ja, aber mit Grenzen» referierte.
Unterstützung von Ausländern
Nach der Abstimmung vom 9. Februar 2014 wird die Einwanderung in die Schweiz wohl schwieriger. 50,3% des Stimmvolks und eine Mehrheit der Kantone haben die Initiative «gegen Masseneinwanderung» der SVP angenommen. Diese fordert Quoten für ausländische Arbeitskräfte, die in der Schweiz leben, die Bevorzugung von Schweizer Arbeitnehmern bei freien Stellen und Einschränkungen der Rechte von Ausländern bei Sozialleistungen.
Doch warum unterstützen Ausländer in der Schweiz eine solche Volksinitiative oder die Partei, die dahinter steht? Der Politologe Gianni D’Amato von der Universität Neuenburg nimmt an, dass dies mit dem Bedürfnis zu tun habe, sich «anerkannt und akzeptiert» zu fühlen.
Laut D’Amato bietet die SVP «ein starkes Bild» in Bezug auf was es bedeute, Schweizerin oder Schweizer zu sein. «Doch es ist auch ein altmodisches Bild. Im Prinzip ist es die Schweiz der 1950er- und 1960er-Jahre, als alles in Ordnung und geordnet war.»
Die SVP brauche eingewanderte Mitglieder, sagt er. «Wenn Ausländer Teil davon sind, ist das die Legitimation, dass ihre Politik nicht auf irgendein diskriminierendes Verhalten hinausläuft.»
Provozierende Veränderung
Der kroatisch-schweizerische Doppelbürger Niko Trlin unterstützt die Partei, weil er das Gefühl hat, sie sei eine der wenigen Parteien, die sich für die Bewahrung von Schweizer Werten einsetze. «Ich wollte mein Teil dazu beitragen, damit wir das privilegierte Leben weiterführen können, das wir hier in der Schweiz geniessen», sagt er.
Doch er sehe auch, dass einige Leute erstaunt darauf reagierten, weil er doch einen kroatischen Hintergrund habe. «Ich verstehe das, aber von meiner Perspektive aus bringt es nichts, von der anderen Seite des Flusses zu rufen, wenn ich etwas betreffend Ausländer ändern will – ich muss mittendrin sein.»
Die letzten Kampagnen der Partei allerdings seien schon «ein bisschen übertrieben» gewesen. Man habe nur gescheiterte Migranten und Beispiele schlechter Integration gezeigt. «95% von ihnen machen jedoch hervorragende Arbeit in der Schweiz.»
Die Bestätigung
Yvette Estermann ist seit 2007 Nationalrätin. Sie ist eine von wenigen Eingebürgerten im Schweizer Parlament (Eine Motion, die Parlamentarier verpflichtete, Doppelbürgerschaften anzugeben, scheiterte 2008; daher gibt es keine Statistik). 1999 wurde sie eingebürgert, im Jahr danach trat sie in Kriens, Kanton Luzern, der SVP bei.
Der Entscheid für die Partei sei nicht schwierig gewesen, sagt Estermann. Sie sei bei den Debatten am Fernsehen fasziniert von der Galionsfigur Christoph Blocher gewesen. «Und dann habe ich immer gedacht, er macht so klare Aussagen. Er ist greifbar.» Sie fing an, sich mit dem Programm der Partei auseinanderzusetzen, und dort «kam für mich die Bestätigung».
Das Parteiprogramm 2011 bis 2015 wird in einem über hundertseitigen Dokument umrissen, gefüllt mit Statistiken, Zitaten und Postkartenfotos der Schweiz. Die Werte der Partei werden im Detail beschrieben. «Wer die Schweizerische Volkspartei wählt, soll wissen, woran er ist», heisst es im Einführungstext. «Die SVP spricht Klartext und steuert einen klaren, verlässlichen Kurs.»
Einige dieser Werte, wie Souveränität, Direkte Demokratie und Eigenverantwortung, werden von den meisten Schweizer Parteien geteilt. Andere nicht, wie etwa die Ablehnung der EU-Mitgliedschaft und der Kampf gegen Kriminalität durch Ausschaffung krimineller Ausländer.
Wer genau hinschaut, dem erscheinen viele der Hinweise der Partei auf Ausländer negativ. «Heute wird das Bürgerrecht richtiggehend verschleudert», heisst es beispielsweise. Und: «Zwar gibt es auf Bundesebene keine umfassende Jugendkriminalitäts-Statistik, und viele jugendliche Täter besitzen mittlerweile den Schweizer Pass. Experten gehen aber von einem Migrationshintergrund bei Jugendtätern von 75 Prozent aus.»
Gibt es also «gute Ausländer» und «schlechte Ausländer»? Nein, sagt Parteipräsident Brunner, aber «es gibt wie überall gute und schlechte Menschen, sowohl unter Ausländern wie auch unter Schweizern. Und diese sind die Kriminellen; jene, welche die Gesetze nicht einhalten und ihre eigene Kultur über die Gesetze des Landes stellen.» Man erwarte von jedem, der hier lebe, dass er die Schweizer Bundesverfassung einhalte, so Brunner.
Schweizerischer als Schweizer
Schweizer Werte hochzuhalten ist für Estermann selbstverständlich. 2008 reichte sie im Parlament eine Motion ein, die verlangte, dass die Parlamentarier zu jeder Sessions-Eröffnung die Schweizer Nationalhymne singen sollten. «Viele haben gesagt, ‹ausgerechnet Du!›. Aber viele haben das geschätzt, haben gesagt, ‹Du bringst uns Schweizern bei, wie man Schweizer ist›.»
Egal, welche Partei sie unterstützen, eingebürgerte Ausländerinnen und Ausländer haben wie alle Schweizer Bürger ein Anrecht, bei der Gestaltung der Zukunft des Landes mitzureden. Als er hört, dass ich kürzlich Schweizerin geworden bin, beginnt Toni Brunner zu strahlen und schüttelt meine Hand ein weiteres Mal. «Gratuliere! Willkommen!», sagt er.
«Die Einbürgerung soll nicht einfach sein, aber wenn man Schweizer ist, ist es ein Privileg», sagt Brunner. «Einbürgerung heisst mitbestimmen, und dieser Kampf lohnt sich, auch wenn es fünf oder zehn Jahre dauert.»
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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