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Werden französische Steuerflüchtlinge zur Kasse gebeten?

Gérard Wertheimer (rechts), dem 49% der Chanel-Gruppe gehören, besitzt laut dem Magazin Bilanz ein Vermögen von 9 bis 10 Milliarden Franken. Er lebt im Kanton Genf. AFP

Das klare Ja des Schweizer Stimmvolks zur Pauschalbesteuerung wird die alten Spannungen im Zusammenhang mit französischen Steuerflüchtlingen nicht entkrampfen. In Paris erhält das amerikanische Modell einer Besteuerung aufgrund der Nationalität Auftrieb. Dies würde Frankreich erlauben, seine Landsleute auch im Ausland zu besteuern.

Frankreich ist das Land mit den meisten Steuerflüchtlingen  auf helvetischem Boden. Gemäss den Schätzungen von Xavier Oberson, Steuerrechtsanwalt in Genf, sind es fast 3000, also mehr als die Hälfte der 5729 Pauschalbesteuerten, die 2013 verzeichnet waren. Unter ihnen befinden sich 49, deren Vermögen laut der Zeitschrift Bilanz zu den 300 grössten in der Schweiz gehören. Auch zahlreiche Prominente aus Sport und Kultur haben seit langer Zeit die Eidgenossenschaft zu ihrer Wahlheimat gemacht.

Letztes Wochenende hat ihnen das Schweizer Stimmvolk ein starkes Signal geschickt, indem es eine Abschaffung ihres Steuervorteils mit fast 60% Nein-Stimmen abgelehnt hat. Aber trotz der Niederlage warnen die Gegner dieses Steuersystems, das auf dem Lebensaufwand des Steuerpflichtigen basiert: Es bedeutet nicht, dass sie hier bis ans Ende ihrer Tage vor der französischen Steuerbehörde abgeschirmt leben können.

Pauschalbesteuerung

Das System der Pauschalsteuer basiert in der Schweiz auf dem Lebensstandard und den Ausgaben des Steuerzahlers und nicht auf dem tatsächlichen Einkommen und Vermögen. Angewendet wird es nur bei Ausländern, die keiner Erwerbstätigkeit in der Schweiz nachgehen.

2012 entschied das Parlament, die Bedingungen der Pauschalsteuer ab 2016zu verschärfen. Die Mindestausgabe, die im Rahmen der kantonalen und eidgenössischen Steuern in Rechnung gezogen wird, beträgt das Siebenfache des Mietzinses oder des lokalen Mietwerts der Wohnung oder des Hauses. Was die direkte Bundessteuer betrifft, können nur Personen von dem Steuerprivileg profitieren, die über ein Einkommen von mindestens 400’000 Franken verfügen.

Ein Beispiel: Ein Ausländer, der in der Schweiz eine Wohnung kauft, deren Mietwert monatlich 5000 Franken beträgt, wird zum gleichen Steuersatz wie die anderen Steuerzahler auf einem Einkommen von CHF 420’000 (5000 x 12 x 7) besteuert. Hinzu kommen allfällige weitere Ausgaben, wie Autos oder Privatflugzeuge.

«Die Pauschalbesteuerung bleibt vorerst bestehen. Auf Druck des Auslands wird sie – wie das Steuerhinterzieher-Geheimnis – abgeschafft werden», hat die sozialdemokratische Nationalrätin Susanne Leutenegger-Oberholzer nach Bekanntgabe des Abstimmungsresultats getwittert. «Wenn ein Land wie Frankreich sich entscheidet, Druck auf die Steuerflüchtlinge auszuüben, könnten wir damit Probleme bekommen», sagte Niklaus Scherr, Vater der Initiative gegenüber dem Westschweizer Fernsehen RTS.

Abkommen mit Andorra

Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf zeigte sich an der traditionellen Medienkonferenz im Anschluss an die Abstimmung zuversichtlich: «Solange andere Staaten auch eine Art Pauschalbesteuerung gewähren, wird es keinen Druck von aussen geben, der uns zu irgendwelchen Änderungen verpflichten würde.»

Das wird Frankreich nicht gerne gehört haben. Ende 2012 hat die sozialistische Regierung einen ersten grossen Schritt gemacht, indem es einseitig Personen aus dem Doppelbesteuerungs-Abkommen zwischen den beiden Staaten ausschloss, die von einer Art Pauschalbesteuerung profitierten. Diese Praxis-Verschärfung wurde vom Waadtländer Finanzminister Pascal Broulis in der Folge als «Kriegserklärung» qualifiziert.

Heute will Frankreich noch weitergehen. Ausgehend vom Beispiel der USA sieht der westliche Nachbar der Schweiz vor, seine Landsleute überall auf der Welt zu besteuern. Den Anfang gemacht hat man mit dem Kleinstaat Andorra. Das von beiden Staaten unterzeichnete Doppelbesteuerungs-Abkommen, das vor der Ratifizierung durch die Nationalversammlung steht, sieht in der Tat vor, dass «Frankreich natürliche Personen französischer Staatszugehörigkeit, die sich in Andorra niedergelassen haben, so besteuern kann, als ob das (…) Abkommen nicht existieren würde.»

Franzosen in der Schweiz sind beunruhigt

«Diese Änderung wird hinter den Kulissen seit zwei, drei Jahren vorbereitet. Das Abkommen mit Andorra ist die erste konkrete Demonstration», lässt sich Xavier Oberson in der Westschweizer Sonntagszeitung «Dimanche Matin» zitieren. Im Falle einer Verallgemeinerung könnte dieses Steuersystem ernsthafte Konsequenzen für die rund 163’000 Franzosen oder Doppelbürger haben, die in der Schweiz leben. «Wenn ein Franzose in Genf lebt und arbeitet und seinen Lebensunterhalt auf normale Art verdient, sollte er in Frankreich nicht Steuern bezahlen müssen. Dafür sollten Kapitalgewinne stark besteuert werden. Dem entsprechend würden die pauschalbesteuerten Franzosen der Schweiz ebenfalls stark getroffen», sagt Xavier Oberson.

«Meine Landsleute sind beunruhigt», sagt Claudine Schmid, die Vertreterin der Franzosen in der Schweiz, gegenüber swissinfo.ch. Die Abgeordnete der UMP hat eine Revolte losgetreten, in deren Folge Finanzminister Michel Sapin kommenden Montag auf Fragen aus der Nationalversammlung antworten wird. Er dürfte dort die gleiche Botschaft äussern wie gegenüber der Kommission für auswärtige Angelegenheiten, nämlich dass es darum gehe, den Handlungsspielraum der Behörden zu gewährleisten, aber dass die Regierung nicht vorhabe, diese Reform kurzfristig anzuwenden.

«Warum sollte man das Doppelbesteuerungs-Abkommen ändern, wenn man nicht die Absicht hätte, die Besteuerung nach Nationalität einzuführen? Natürlich braucht es dafür eine gewisse Zeit, aber es gibt keinen Zweifel, dass das Abkommen die Besteuerung der französischen Bürger überall auf der Welt andeutet», beklagt Claudine Schmid. Mit diesem System würden die französischen Bürger im Ausland zu einem vom französischen Finanzamt festgelegten Satz besteuert, abzüglich der Steuern, die sie bereits in ihrer Wahlheimat bezahlen.

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Wahlkampf-Versprechen

Es ist nicht das erste Mal, dass Frankreich solche Anwandlungen hat. Die Idee einer Besteuerung aufgrund der Nationalität tauchten, in unterschiedlicher Form, fast in allen Wahlkampfprogrammen der Präsidentschaftskandidaten von 2012 auf. Einer der feurigsten Verfechter war der ehemalige Präsident Nicolas Sarkozy persönlich.

Aber die Aufgabe ist sehr kompliziert. «Um die Expats zu besteuern, müssten die über 100 Steuerabkommen neu verhandelt werden, die Frankreich mit anderen Ländern abgeschlossen hat», sagt Eric Ginter von der Anwaltskanzlei Hoche in Paris gegenüber swissinfo.ch. «Ich bin nicht sicher, ob die Schweiz, Belgien oder Grossbritannien solchen Neuverhandlungen gegenüber wohlgesinnt wären.» Ausserdem stellt sich laut Ginter die Frage der Umsetzung: «Die USA, welche dieses Prinzip seit dem Sezessionskrieg anwenden, haben viel Erfahrung und ein beträchtliches Verwaltungsarsenal. Das lässt sich nicht aus dem Ärmel schütteln.»

Ungeklärt ist auch die Frage der Vereinbarkeit dieser Vorlage mit der französischen Verfassung und mit der Personenfreizügigkeit innerhalb der EU. 1999 hat das Finanzministerium, damals von Dominique Strauss-Kahn geleitet, eine Steuer ausgebrütet, mit der die Steuerflucht hätte eingedämmt werden sollen. Ein totaler Misserfolg: Das von Eric Ginter angefochtene Vorhaben wurde vom Europäischen Gerichtshof 2004 annulliert.

Das Problem der Steuerflucht wurde inzwischen durch die Einführung einer «Exit tax» angepackt. Diese sieht eine Steuer auf Veräusserungsgewinnen vor, welche die Steuerpflichtigen, die Frankreich verlassen, beim Verkauf ihrer Bankbeteiligungen erzielen. «Man hat einfachere und effizientere Mittel gefunden, um die Abwanderung französischer Bürger zu bremsen. Die Besteuerung aufgrund der Nationalität ist schon ein wenig veraltet», schätzt Eric Ginter.

(Übertragen aus dem Französischen: Peter Siegenthaler)

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