Wie weiter mit der Schweizer Hilfe an Osteuropa?
Innert etwas weniger als zehn Jahren hat die Schweiz über eine Milliarde Franken für die Osterweiterung der Europäischen Union (EU) bereitgestellt. Trotz einer positiven Bilanz ist die Zukunft der Ostzusammenarbeit unsicher. Das Problem: Die Starre zwischen Bern und Brüssel, besonders was die Personenfreizügigkeit betrifft.
Als sich die Europäische Union 2004 nach Osten hin erweiterte, verpflichtete sich die Schweiz, einen Beitrag an die Verminderung wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheiten in den zehn neuen Mitgliedsstaaten zu leisten.
Die Forderung nach einer finanziellen Beteiligung – zu Beginn auf eine Milliarde Franken beschränkt – war direkt aus Brüssel gekommen. Dieses hatte die Anfrage damit begründet, dass sich die Schweiz dank der bilateralen Abkommen einen neuen Markt von 75 Millionen Konsumenten erschliessen könne.
Nach einem Referendum der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) wurde die so genannte Kohäsions-Milliarde 2006 vom Stimmvolk angenommen. Zwei Jahre später sprach das Parlament eine weitere Tranche über 257 Millionen Franken für die beiden neuen Mitgliedsländer Rumänien und Bulgarien. Und im Dezember 2014 weitere 45 Millionen für Kroatien.
Innerhalb etwas weniger als zehn Jahren finanzierte die Eidgenossenschaft damit über 300 Projekte in Osteuropa. In den Bereichen Wirtschaft, Tourismus, Gesundheitswesen, Energien und Zusammenleben.
Die BilanzExterner Link sei bisher positiv ausgefallen und in vier Berichten bestätigt, sagt Hugo Bruggmann vom Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco), das gemeinsam mit der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) für die Projekte vor Ort verantwortlich ist.
Mit dem Erweiterungsbeitrag führte die Schweiz ihre Unterstützung der Übergangsphase der ehemals kommunistischen Länder des Ostblocks fort, die nach dem Mauerfall aufgenommen wurde. «Sie hat damit ihrer Tradition die Treue gehalten, Ländern in Schwierigkeiten zu helfen», sagt Gilbert Casasus, Professor am Zentrum für Europastudien der Universität Freiburg. «Die Abstimmung über den Erweiterungs-Beitrag war indirekt auch eine Art demokratische Unterstützung Europas.»
Positive Bilanz, nicht ohne Schwierigkeiten
Die grösste Wirkung hatte der Beitrag in Polen, natürlich auch weil das Land mit 489 Millionen Franken den Hauptteil der Gelder erhalten hat. Die Schweiz unterstützte über 400 Startups, beteiligte sich bei der Entfernung von 31’000 Tonnen Asbest in Gebäuden und der Verbesserung der Sicherheit an der Grenze zu Weissrussland.
Auch in kleineren Ländern wie Litauen trugen die Schweizer Projekte laut Bruggmann Früchte. Er erwähnt als Beispiel die Reduktion der Kindersterblichkeits-Rate, die dank besonderen Gesundheitsmassnahmen erreicht wurde.
Ein Teil des Erfolgs ist auch der Autonomie geschuldet, welche die Schweiz behalten konnte. So wird der Schweizer Beitrag direkt von Bern ausbezahlt und endet nicht im Kessel der europäischen Beiträge und damit in der grossen Verwaltungsmaschine Brüssels. Die Schweiz entscheidet daher unabhängig, welche Projekte sie unterstützen will und überprüft deren Erfolg regelmässig. Sie hat damit auch einen direkteren Kontakt zu den lokalen Partnern.
Doch nicht alles sei rund gelaufen, gibt Bruggmann zu. Einige Projekte seien mittendrin abgebrochen worden, weil sie nicht der erwarteten technischen Qualität genügten. Auch sei es zu Verzögerungen gekommen, sei es auf Grund der Langsamkeit der Verfahren oder mangels qualifizierten Personals auf Grund der starken Auswanderung, die viele Länder wie etwa Rumänien betreffe.
Das Engagement im Osten brachte aber auch der Schweiz einige Vorteile. So öffneten einige Projekte Schweizer Unternehmen die Türen oder ermöglichten den akademischen Austausch im Bereich der Forschung. Dies sei jedoch schwierig zu beziffern, sagt Bruggmann. Zu erwähnen sei auch das indirekte Ziel der Eindämmung der Einwanderung, dank der Schaffung von Jobs und besseren Grenzkontrollen – Bereiche, in denen sich die Schweiz besonders engagiert.
Mehr
Unterwegs in Roma-Dörfern: Zwischen Tristesse und Hoffnung
Investition für zehn Jahre, und danach?
Zeitlich beschränkt, laufen die Schweizer Projekte für die ersten zehn Länder der Osterweiterung im Mai 2017 aus, zwei Jahre danach auch für Rumänien und Bulgarien. Bern hatte sich mit Brüssel darauf geeinigt, selber entscheiden zu können, ob, wie und wo nach zehn Jahren weiter eingegriffen werden soll.
«Mit der positiven Bilanz der Projekte und den immer noch grossen Bedürfnissen in diesen Ländern vor Augen – auch wegen der Finanz- und der Ukraine-Krise – würde es Sinn machen, weiterzufahren», sagt Georg Dobrovolny, Direktor des Forums Ost-West. Diese Organisation fördert die Zusammenarbeit und Partnerschaft in Europa.
Der Moment ist aber nicht gerade günstig: Die Eindämmung der Einwanderung, die das Schweizer Stimmvolk am 9. Februar 2014 angenommen hat, warf einen neuen Schatten auf die bilateralen Beziehungen zwischen Bern und Brüssel. Die vorgesehene Einführung von Kontingenten und Höchstgrenzen ist nicht vereinbar mit dem freien Personenverkehr, einem Pfeiler der EU-Politik, über den Brüssel nicht zu verhandeln bereit ist. Die Schweiz steht deshalb vor einer schwierigen Mission: Sie muss den Volkswillen respektieren, ohne dem bilateralen Weg zu schaden.
In diesem Zusammenhang unterstrich die Schweizer Regierung, dass eine Erneuerung der Erweiterungshilfe «im Licht der Gesamtbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU bewertet» werde. Der Ausgang der Verhandlungen sei dabei ein «zentraler» Faktor.
Eine Tür offen lassen
Doch die Zeit wird knapp. Deshalb eröffnete der Bundesrat Ende Dezember 2014 ein Konsultations-VerfahrenExterner Link, um die Gültigkeit des Bundesgesetzes über die Zusammenarbeit mit den Staaten OsteuropasExterner Link bis Ende 2024 zu verlängern. Dieses Gesetz dient unter anderem als Grundlage für den Erweiterungsbeitrag. Dabei gehe es nicht um einen neuen Beitrag, unterstrich die Regierung, sondern darum, eine Tür offen zu lassen, in Erwartung dass sich der Himmel wieder aufkläre.
Mehr Geld für den Osten, dank starkem Schweizer Franken
Mit dem Wertzuwachs des Schweizer Frankens erhielten die vom Parlament 2006 und 2008 festgelegten Kredite in den Lokalwährungen der 12 neuen Mitgliedsstaaten mehr Gewicht: Polen, Slowakei, Tschechische Republik, Ungarn, Lettland, Litauen, Estland, Slowenien, Malta, Zypern, Rumänien und Bulgarien.
Man geht schätzungsweise von einem Mehrwert zwischen 70 und 100 Millionen Franken aus, mit dem die Schweiz weitere Projekte finanzieren oder bestehende ausbauen könnte.
Diese Position überzeugt die Sozialdemokratische Partei (SP) nicht. Für sie sollte die Schweiz den Übergangsprozess weiterhin begleiten, unabhängig von ihren Beziehungen zu Brüssel. Die Schweiz habe jedes Interesse daran, dass diese Staaten sich demokratisch und sozial entwickelten, betont die Partei in ihrer Antwort an die Regierung.
Dieser Meinung widerspricht die SVP vehement. Die Partei hat sich schon immer gegen den Erweiterungsbeitrag gewehrt und war die einzige, welche die «Masseneinwanderungs-Initiative» unterstützte. Das Geld sei schlecht ausgegeben und werde in den Händen der Bürokratie enden, schreibt die SVP. Sie verlangt ein Ende des «sozialistischen Umverteilungsprogramms», wie sie es nennt.
Eher dem Süden statt dem Osten helfen?
Auch wenn sie wenig wahrscheinlich sei, könne die Möglichkeit einer abrupten Unterbrechung des Schweizer Beitrags nicht ausgeschlossen werden, sagt Gilbert Casasus: «Die Schweiz befindet sich bei den Verhandlungen mit der EU über den freien Personenverkehr in einer nachteiligen Position. Sie verfügt über einen extrem eingeschränkten Handlungsspielraum. Und das Dossier Erweiterungsbeitrag hat nicht viel Gewicht.»
Die Länder des Ostens seien sicherlich zufrieden mit der Schweizer Hilfe, ergänzt Casasus, doch sie gehörten auch zu den erbittertsten Verfechtern der Personenfreizügigkeit.
Bleibt eine weitere offene Unbekannte: Mit der Wirtschaftskrise, die Länder wie Griechenland oder Spanien bedroht, könnte auch die Schweiz zur Kasse gebeten werden. Eine Süd- statt einer Osthilfe? Ein Vorschlag, der sicherlich vermehrt zu hitzigen Debatten im Parlament führen wird, sollte er eintreffen.
(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch