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Simone Biles ist mehr als nur eine Rekordfrau

(Keystone-SDA) Mit nun 33 Medaillen an Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften ist Simone Biles die erfolgreichste Turnerin aller Zeiten. Doch sie ist mehr als das.

Alle Augen sind an den Kunstturn-Weltmeisterschaften in Antwerpen auf Simone Biles gerichtet. Sie schliesst den Teamwettkampf mit ihrer Bodenübung ab und führt diese so aus, als wäre es das Leichteste auf der Welt. Der Lohn sind 15,166 Zähler, die höchste Punktzahl am Mittwochabend. Die Amerikanerinnen sind zum siebenten Mal in Folge Team-Weltmeister. Für Biles ist es die 20. Goldmedaille an Weltmeisterschaften, die erste holte sie vor 10 Jahren im Alter von 16 ebenfalls in Antwerpen.

Mit dem Total von 33 ist sie nun alleinige Rekordhalterin, was die Anzahl an Podestplätzen an Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften betrifft. Zuvor teilte sie sich die Bestmarke mit Larissa Latynina aus der ehemaligen Sowjetunion. Was macht sie zur besten Turnerin aller Zeiten?

Gute körperliche Voraussetzungen

Einerseits sind es die körperlichen Voraussetzungen. Mit 13 Jahren hörte sie auf zu wachsen, sie ist bloss 1,42 m gross. Ihr kindliches Aussehen führte im vergangenen Jahr zur skurrilen Situation, dass ihr eine Flugbegleiterin ein Malbuch anbot. Sie ist jedoch nicht nur klein, sondern auch äusserst kräftig. Ihre enorme Beschleunigungsfähigkeit kommt am Boden und beim Sprung perfekt zum Tragen.

Ihre Autobiographie trägt den Titel «Courage to Soar». Courage bedeutet Mut, to soar kann mit hochfliegen übersetzt werden. Das passt. Denn um in jene Sphären vorzudringen, in denen sich Simone Biles befindet, braucht es eine gehörige Portion Mut. Sie turnt Elemente, von denen ihre Konkurrentinnen nur träumen können, auch weil sie über einen ausgeprägten Orientierungssinn in der Luft verfügt. Dennoch unterlaufen ihr kaum Fehler.

Neue Schwierigkeitsstufe

In Antwerpen zeigte Simone Biles am Sprung erstmals auf internationalem Niveau einen Jurtschenko mit gebücktem Doppelsalto rückwärts, der als «Biles II» in die Annalen eingeht. Die Schwierigkeit wird mit 6,4 bewertet. Zum Vergleich: ihre Gegnerinnen kamen maximal auf 5,6. Schon vier andere Elemente tragen ihren Namen. Am Boden musste für ihren Doppelsalto rückwärts mit drei Schrauben eine neue Schwierigkeitsstufe eröffnet werden: J.

Jedoch ist Simone Biles nicht mit allen Einstufungen einverstanden. Es gibt Spekulationen, dass ihre Noten wegen der Gefährlichkeit einiger Elemente bewusst unterbewertet werden. Auf die Frage, warum sie sich solch unglaublich schwierige Fähigkeiten aneigne, obwohl sie dafür nicht genügend belohnt werde, antwortete sie: «Weil ich es kann.» Es geht ihr um mehr als um Rekorde.

Vom Grossvater adoptiert

Der Weg von Simone Biles hätte sehr gut auch in eine andere Richtung gehen können. Sie kam am 14. März 1997 als drittes von vier Kindern auf die Welt. Ihr Vater verschwand, die Mutter verlor aufgrund ihrer Alkohol- und Drogensucht das Sorgerecht. Die Kinder kamen zunächst ins Heim und wurden später in verschiedenen Pflegefamilien untergebracht. 2003 wurden Simone Biles und ihre jüngere Schwester Adria vom wohlhabenden Grossvater mütterlicherseits, Ron, und seiner zweiten Frau adaptiert. Diese sind nun im Besitz des World Champions Centre, in dem Simone Biles trainiert. Es ist wohl der entscheidende Wendepunkt im Leben des Superstars.

Mittlerweile ist Simone Biles eine Lichtfigur über den Sport hinaus. Das hat auch mit einem tragischen Ereignis zu tun. Sie war ebenfalls eines der Opfer des langjährigen Arztes beim US-Turnverband, Larry Nassar, der 2018 wegen zahlreicher sexueller Übergriffe zu einer Gefängnisstrafe von 40 bis 175 Jahren verurteilt wurde. Simone Biles, die von Nassar unangemessen berührt worden war, hatte lange geschwiegen, ehe sie sich einen Tag vor der Hauptverhandlung auf Twitter meldete und den Beitrag mit #MeToo markierte.

Danach fiel sie in eine tiefe Depression, weil sie das Gefühl hatte, perfekt sein zu müssen. Eine Therapie half ihr aus der Krise. Vielmehr noch erkannte sie, wie viel Gewicht ihre Worte haben. Sie nutzte diesen Einfluss, beispielsweise nach der Tötung des Afroamerikaners George Floyd durch einen weissen Polizisten. Nachdem sie sich (bezüglich Nassar) geoutet habe, sei ihr diese Macht bewusst geworden, sagte Simone Biles einst. Umso mehr wählt sie ihre Worte mit Bedacht.

Fünf weitere Medaillenchancen

Simone Biles hat also schon einiges durchgemacht in ihrem Leben. Wenn sie turnt, befindet sie sich allerdings in einer anderen Welt. Das kommt daher, dass ihr früh beigebracht wurde, die Gefühle zu verdrängen, «weil man nicht gut turnt, wenn man zu emotional ist.» Darum ist sie sehr gut darin, «das eine vom anderen zu trennen.»

An den Olympischen Spielen 2021 in Tokio gelang es ihr jedoch für einmal nicht, alles auszublenden. Im Teamfinal misslang ihr der Sprung zum Auftakt komplett, worauf sie sich vom Wettkampf zurückzog und danach einzig noch den Final am Schwebebalken (3.) bestritt. «Ich habe das Gefühl, dass ich manchmal die Last der ganzen Welt auf meinen Schultern trage», schrieb Biles damals auf ihrem Instagram-Kanal.

Nun kehrte sie in Antwerpen in alter Stärke – und als inzwischen verheiratete Ehefrau von Football-Spieler Jonathan Owens – auf die internationale Bühne zurück. Gold im Teamwettbewerb dürfte erst der Anfang gewesen sein, Simone Biles kann in Belgien noch fünf weitere Medaillen gewinnen. Es werden also noch oft alle Augen auf sie gerichtet sein.

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