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Liebe Schweizerinnen und Schweizer im Ausland
in der Schweiz leben Tausende abgewiesene Asylsuchende. Ohne Perspektive, nur mit dem Nothilfe-Minimum. Wie lebt es sich im Überlebens-Modus? Betroffene aus Eritrea erzählen.
Liebe Grüsse aus Bern
Tausende von abgewiesenen Asylsuchenden können weder abgeschoben werden, noch in ihre Heimat zurückkehren. Viele leben weiter in der Schweiz und erhalten Nothilfe, sind aber ohne irgendeine Zukunftsperspektive. Junge Eritreer erzählen uns ihre Geschichte.
Marie Vuilleumier
Mewael* lebt mit 10 Franken pro Tag in Genf. Er hat kein Recht, eine Ausbildung zu machen oder zu arbeiten. Um seine Tage auszufüllen, spielt er Fussball, erledigt in der ihm zugewiesenen Unterkunft kleinere Arbeiten oder kocht im Haus des Quartiervereins.
Er gehört zu den Tausenden von Personen, die kein Asyl erhielten, aber nicht in ihre Heimat zurückkehren können und nun hier in der Schweiz feststecken. 2017 haben mehr als 8000Externer Link abgewiesene Asylsuchende NothilfeExterner Link erhalten, meistens in Form von Unterkunft und Nahrungsmitteln.
Mewael ist etwa 20 Jahre alt. Er ist aus Eritrea geflohen und kam vor fast drei Jahren in die Schweiz. Er reichte ein Asylgesuch ein und lernte Französisch, während er auf den Entscheid der Behörden wartete, der zwei Jahre später fiel: Sein Gesuch wird abgelehnt, Mewael muss die Schweiz verlassen. Er reichte jedoch gegen den Asylentscheid Rekurs ein und klammert sich nun an diese schwache Hoffnung.
Der junge Mann würde gerne eine Lehre als Elektriker oder Mechaniker machen, doch er glaubt nicht mehr daran. «Das Leben in der Schweiz ist kompliziert», seufzt sein Freund Samson. «Es ist nicht kompliziert, es ist tot», erwidert Mewael mit Tränen in den Augen.
Wegweisung verfügt, aber nicht vollzogen
Unter den abgewiesenen Asylsuchenden gibt es viele Eritreer, die sich in dieser Situation befinden, weil die Schweizer Regierung kein Rückübernahme-Abkommen mit Eritrea unterzeichnet hat. Sie kann daher die abgewiesenen Asylsuchende nicht unter Zwang ausweisen.
«Auf internationaler Ebene sticht die Schweiz hervor, weil sie Wegweisungsentscheide verfügt: Kein europäischer Staat vollzieht Wegweisungen nach Eritrea», präzisiert ein detaillierter BerichtExterner Link der Westschweizer Beobachtungsstelle für Asyl- und AusländerrechtExterner Link (Observatoire romand du droit d’asile et des étrangers) über den Druck, dem die eritreische Gemeinschaft ausgesetzt ist.
Samson* ist schon seit vier Jahren in der Schweiz und leidet darunter, dass er nicht arbeiten darf: «Ich bin blockiert, ich weiss nicht, was ich machen soll. Es ist sehr stressig.»
Um dieser Situation zu entkommen, versuchen einige auch, in einem anderen Land ein Asylgesuch zu deponieren. Yonas* ging nach Deutschland, wurde aber wegen des Dublin-Abkommens Externer Linkin die Schweiz zurückgeschickt.
Auch er ist schon seit vier Jahren in der Schweiz. Und er träumt davon, Mechaniker, Gärtner oder gar Anwalt zu werden. «Als ich von zu Hause wegging, glaubte ich, meine Probleme lägen hinter mir, doch in Wahrheit begleiteten sie mich bis hierher», klagt Yonas.
All diese jungen Eritreer sprechen gut Französisch, doch sie spüren einen Kloss im Hals und ringen um Worte, wenn sie über ihr Leben in der Schweiz und ihre Zukunftsperspektiven sprechen. «Ich fühle mich schlecht, habe Schlaf- und Konzentrationsprobleme», erklärt Robel, der seit 2 Jahren in Genf ist. «Ich hatte gedacht, ich würde hier Glück und Freiheit finden, aber ich habe nichts gefunden.»
Rückkehr unmöglich
Wenn die Behörden den abgewiesenen Asylsuchenden mitteilen, dass sie verpflichtet sind, die Schweiz zu verlassen, bieten sie ihnen eine RückkehrhilfeExterner Link an, aber keiner von ihnen zieht eine Rückkehr in Betracht.
Eritrea wird regiert von einem Diktator, der sein Volk unterdrückt; es ist ein Land, in dem es zu Verbrechen gegen die Menschlichkeit kommt, wie es in einem BerichtExterner Link der Vereinten Nationen (UNOExterner Link) heisst: «Die Verantwortlichen in Eritrea gehen seit 1991 hartnäckig, verbreitet und systematisch gegen die Zivilbevölkerung vor. Seit damals begehen sie Verbrechen wie Sklaverei, Inhaftierung, Verschwindenlassen und Folter sowie andere unmenschliche Taten wie Verfolgung, Vergewaltigung und Mord.»
Hayat* möchte erzählen, was ihm passiert ist, damit wir die Situation der eritreischen Flüchtlinge besser verstehen können. Er erklärt, dass in Eritrea alle für eine unbestimmte Zeit in der Armee dienen müssten. Die Bevölkerung sei nicht frei, eine selbst gewählte Ausbildung zu machen, oder dort zu arbeiten, wo man wolle. Und viele Menschen würden verschwinden, ohne dass ihre Familien je über ihre Inhaftierung oder ihren Tod informiert würden.
Hayats Vater verschwand, und er selbst kam ins Gefängnis, als er erst 16 Jahre alt war. Er wurde geschlagen, angebunden und in einen Käfig gesperrt. Während eines Transfers gelang dem jungen Mann die Flucht. Er durchquerte den Sudan, Libyen und schliesslich das Mittelmeer. Am Anfang war er unterwegs mit rund 25 Personen. Nur drei davon kamen in Italien an.
«Wir kommen nicht wegen des Geldes hierher, wir suchen nur die Freiheit», erklärt Hayat, der eben eine gute Nachricht erhalten hat: Sein Rekurs wurde angenommen, er wurde vorläufig aufgenommen.
Der junge Mann kann nun seine Ausbildung bei einem Elektriker fortsetzen, die er von einem Tag zum anderen hätte abbrechen müssen, falls er abgewiesen worden wäre. Aber es ist ein ziemlich bitterer Sieg, da all seine Freunde noch immer auf einen Entscheid warten oder schon endgültig abgewiesen wurden.
Kafkaeskes System
«Es ist kompliziert für sie: Zuerst finden sie hier eine Insel des Friedens und danach sagt man ihnen, sie müssten wieder gehen «, erklärt eine Freiwillige. Sie versucht, den jungen Leuten zu helfen, so gut sie kann, verspürt aber oft ein Gefühl der Machtlosigkeit.
Es gebe kein Gesamtbild der betroffenen Person, alles sei zersplittert: Jemand sei für die medizinische Versorgung zuständig, eine andere Stelle für die Unterkunft etc. Die Verantwortung werde von einer Stelle zur anderen verschoben, was zu kafkaesken Situationen führe.
Eine vorläufige AufnahmeExterner Link ermöglicht Asylsuchenden, deren Gesuch abgelehnt wurde, zumindest, eine Ausbildung zu machen und zu arbeiten. Sie kann aber nur erteilt werdenExterner Link, wenn die Abschiebung den Verpflichtungen der Schweiz im Rahmen des Völkerrechts zuwider lauft, wenn sie die betroffene Person konkret in Gefahr bringt oder physisch nicht vollziehbar ist.
«Eritreische Asylsuchende, deren Gesuch abgelehnt wurde, und die eine Wegweisungsverfügung erhalten haben, sind gesetzlich verpflichtet, die Schweiz zu verlassen», heisst es beim Staatssekretariat für MigrationExterner Link (SEM). «Zurzeit sind zwangsweise Rückschaffungen nicht möglich, freiwillige Rückkehren hingegen schon.»
Nach Einschätzung des SEM wäre es falsch, abgewiesenen Personen, die sich weigern, das Land zu verlassen, eine freiwillige Aufnahme zu gewähren, nur weil die Schweiz die zwangsweisen Rückschaffungen nicht vollziehen kann. «Damit würden jene Personen belohnt, die von Anfang an klarstellen, dass sie ihrer Ausreisepflicht nicht nachkommen werden, obschon sie nicht auf den Schutz der Schweiz angewiesen sind und daher das Land verlassen müssten.»
Begrenzte Hilfe
Das SEM erinnert auch daran, dass eine abgewiesene Person, die sich entscheidet, trotz allem hier zu bleiben, kein Recht mehr auf Sozialhilfe hat, sondern nur noch auf Nothilfe. Ziel ist, «sicherzustellen, dass die betroffenen Personen freiwillig ihrer Pflicht nachkommen, die Schweiz zu verlassen, da es keine wesentlichen materiellen Anreize mehr gibt, hier zu bleiben.»
Für die Nothilfe und die Betreuung der abgewiesenen Asylsuchenden sind die Kantone zuständig, die diesen Menschen, die weder arbeiten noch eine Ausbildung machen können, oft ratlos gegenüberstehen. «Es ist schwierig, positiv zu bleiben, und diese jungen Leute motiviert zu halten», erklärt eine Sozialarbeiterin, die in Genf mit ihnen arbeitet.
Anfang Februar fand in Lausanne eine Westschweizer KonferenzExterner Link zum Thema abgewiesener junger Migranten und Migrantinnen statt, die keinen Zugang zu einer Ausbildung haben. Lehrlinge, Arbeitgeber, Fachleute aus dem Asylbereich und Lehrkräfte lancierten einen AppellExterner Link, in dem die Behörden von Bund und Kantonen aufgefordert werden, es zu ermöglichen, dass die jungen Menschen ihre Ausbildung abschliessen können, auch im Fall eines negativen Asylentscheids.
Und in Genf werden Unterschriften für eine Online-PetitionExterner Link gesammelt, die Regierung und Parlament des Kantons auffordert, eritreische Asylsuchende nicht von der Sozialhilfe auszuschliessen und ihnen zu erlauben, eine Ausbildung zu machen und zu arbeiten.
Restriktivere Asylpolitik
Der Trend der vergangenen Jahre zu einer verschärften Asylpolitik auf Bundesebene scheint anzudauern. Das SEM veröffentlichte 2016 einen neuen BerichtExterner Link zur Lage in Eritrea und zog die Schraube weiter an, eine Praxis, die durch jüngste EntscheideExterner Link des Bundesverfassungsgerichts gestützt wird.
Die Richter sind nun der Ansicht, dass eritreische Asylsuchende in ihr Land zurückgeschickt werden können, auch wenn ihnen bei der Rückkehr der Einzug in die Armee droht. Das SEM leitete eine Überprüfung von mehr als 3000 Dossiers eritreischer Asylsuchender ein, denen die vorläufige Aufnahme gewährt worden war, um abzuklären, ob im Einzelfall eine Wegweisung wieder zumutbar ist.
Vereinigungen zum Schutz von Migranten und die eritreische Gemeinschaft machen gegen die härtere Gangart mobil. Im Mai letzten Jahres nahmen rund 1500 Personen an einer Kundgebung vor dem Bundeshaus in Bern teil. Dabei wurde den Bundesbehörden eine Petition mit 12’000 Unterschriften übergeben, die fordert, dass jedem Asylsuchenden aus Eritrea, dem in seinem Heimatland Misshandlungen drohen, Asyl gewährt wird.
Der Ständerat (Kleine Parlamentskammer) weigerte sich jedoch, auf die Petition einzutreten, da er die schärfere Gangart des SEM in diesem Bereich mit grosser Mehrheit unterstützt.
*Namen der Redaktion bekannt.
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