Abbau bei Novartis: Pharmaindustrie am Scheideweg
Die Nachricht, Novartis werde zwei seiner Werke in der Schweiz stilllegen, verdeutlicht den Druck auf die Pharmaindustrie. Pharma und Medizintechnik gehören zu den stärksten Sektoren der Schweizer Wirtschaft. Sie sind für 30% der Exporte verantwortlich.
Sparmassnahmen, die von Regierungen in Entwicklungsländern umgesetzt wurden, haben einschneidende Auswirkungen auf die Medikamentenpreise. Novartis sieht sich daher gezwungen, ihre Restrukturierungspläne voranzutreiben, obwohl der Konzern im dritten Quartal einen Gewinn von 7% erzielt hat.
Novartis hatte die Streichung von 2000 Arbeitsplätzen angekündigt, 1100 in der Schweiz und 900 in den USA. Neben der Schliessung von Werken in Basel und Nyon will der Konzern auch einen Teil seiner Forschung und Entwicklung auslagern und in «Tieflohn- und anderen Ländern» 700 neue Stellen schaffen.
Novartis-CEO Joseph Jimenez sagte kürzlich an einer Telefonkonferenz, die Medikamentenpreise seien dieses Jahr in Europa um rund 5% gesunken. «Wir befinden uns in einem zunehmend schwierigen Umfeld, das in den nächsten fünf Jahren noch härter werden dürfte. Wir können diese Preissenkung nicht schlucken, ohne Massnahmen zu ergreifen.»
Ähnliche Schritte hatte im letzten Jahr auch Roche angekündigt: Weltweit werden 4800 Stellen gestrichen, 700 davon in der Schweiz.
Thomas Cueni, Generalsekretär von Interpharma, dem Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz, sagte, die Restrukturierung bei Novartis sollte mithelfen, die Sensibilität gegenüber dem Druck zu erhöhen, unter dem die Schweizer Pharmaindustrie steht.
«Novartis hat ziemlich explizit darauf hingewiesen, dass die Schweiz wohl bis zu einem gewissen Grad über die Bücher und sensibler werden müsse in der Frage, was alles für einen forschungsfreundlichen Standort nötig sei», sagte Cueni gegenüber swissinfo.ch.
Nachlässigkeit
Eine parlamentarische Motion, die im September eingereicht wurde, verlangt von der Regierung einen Plan, um die «Forschungs- und Pharmaindustrie neu zu beleben». So sollen Preispolitik, Evaluation und Bewilligungsverfahren sowie das Recht an geistigem Eigentum überprüft werden.
«Die Zukunft dieses für die Schweizer Wirtschaft wichtigen Sektors ist zur Zeit ungenügend gesichert», heisst es in der Motion der Schweizerischen Volkspartei SVP.
Laut Cueni haben die ehemals grossen Erfolge der Pharmaindustrie zu «Nachlässigkeit geführt in Sachen Reformen, die nötig wären.»
Schwerfällige bürokratische Verfahren, Verzögerungen bei der Zulassung zum Markt sowie ein Rückgang bei der klinischen Forschung in den letzten Jahren hätten den Ruf der Schweiz als innovationsfreundlichen Standort ausgehöhlt.
«All diese Signale gehen in die falsche Richtung. Das muss thematisiert werden», so Cueni.
Sheralyn Morey, die bei Espicom Business Intelligence den Pharmamarkt in der Schweiz analysiert, sagte gegenüber swissinfo.ch, die Konkurrenz durch Generika-Produkte mache der Industrie zu schaffen, während die Patente zahlreicher Markenprodukte bald ausliefen.
«Im internationalen Vergleich ist der Generika-Markt in der Schweiz nicht wettbewerbsfähig», so Morey.
Kursschwankungen
Nicht nur Gesundheitsreformen und Preissenkungen mindern kurzfristig das Wachstum des Medikamentenmarkts. Morey erwähnt auch die Auswirkungen der Frankenstärke auf Schweizer Unternehmen.
«Viele Schweizer Firmen, darunter Novartis und Roche, sind vom Export abhängig und haben sich deshalb gewehrt, weil der Franken ihrer Ansicht nach überbewertet ist».
Bei der Präsentierung der jüngsten Quartalszahlen hatte Roche erklärt, die Frankenstärke habe den Umsatz der Gruppe um 13% geschmälert.
Laut Cueni sind Novartis und Roche aber trotz Kursschwankungen gut positioniert, weil sie in anderen Teilen der Welt bedeutende Forschungs- und Produktionsbetriebe betreiben.
So konnte Novartis im dritten Quartal wegen des schwachen Dollars bei den Nettoverkäufen um 6% zulegen.
Über einen längeren Zeitraum gesehen habe die Schweizer Wirtschaft «immer mit einem starken Franken leben müssen», so Cueni. «Was die Unternehmen betrifft, so sind Novartis und Roche gegen diese Auswirkungen gut abgesichert.»
Aus Schweizer Sicht habe die Frankenstärke aber negative Auswirkungen, weil das «Exportwachstum abgenommen hat und zur Zeit stagniert».
Schweizer Experten
Einige Beobachter werten die angekündigte Schliessung von Werken durch Novartis als Indikator dafür, dass die Schweizer Pharmaindustrie von der Massenproduktion wegkommen müsse.
«Ich glaube, Hochqualitäts-Produkte, die viel Forschungsaufwand und Entwicklung erfordern, werden weiterhin in der Schweiz hergestellt, während Endprodukte andernorts produziert werden», sagte Janwillem Acket, Ökonom bei der Bank Julius Bär, gegenüber der Zeitung Le Temps.
Laut Cueni sind die Kosten für Forschung und Entwicklung in der Schweiz in den letzten zwei Jahren im Vergleich zur Eurozone rund 20% gestiegen. Dennoch habe die Industrie im letzten Jahrzehnt 10’000 neue Arbeitsplätze geschaffen.
«Trotz der Ankündigung von Novartis investieren die Unternehmen weiterhin stark in der Schweiz», sagte Cueni. Dies weil die Schweiz noch immer relativ gut positioniert sei.
«Insgesamt hat die Schweiz einen guten Ruf in Sachen Forschungsqualität. Dies wird auch trotz des Stellenabbaus und der Restrukturierung, die zur Zeit stattfindet, so bleiben», glaubt Morey.
Je 40% der Schweizer Exporte von chemischen und pharmazeutischen Produkten gehen nach Europa und in die USA, nach Asien sind es 17%. In der Schweiz bleibt nur einer kleiner Teil.
Mit einem Anteil von 4% an den weltweiten Export chemischer und pharmazeutischer Produkte ist die Schweiz die Nummer 9 unter den grössten Exportländern.
2008 wurden in der Schweiz für die Forschung in der Chemie- und Pharmabranche 5,3 Mrd. Franken ausgegeben. Das sind 44% der gesamten privaten Forschungsgelder, die in der Schweizer Industrie zum Zuge kommen.
(Quelle: Scienceindustries)
(Übertragung aus dem Englischen: Gaby Ochsenbein)
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