Davos schrieb schon vor dem WEF Weltgeschichte
Wegen der Covid-Pandemie wurde der Jahreskongress des World Economic Forum (WEF) dieses Jahr abgesagt. Die kleine Stadt in den Schweizer Bergen war früher schon ein Ort, an dem sich historisch Grosses ereignet hatte. Ein Blick zurück in die 1930er-Jahre.
Im Hochsommer 1938 beging der deutsche Künstler Ernst Ludwig Kirchner bei Davos Suizid. Was ging dem deutschen Architekten, Bildhauer, Maler und Mitglied der berühmten Künstlergruppe «Brücke» in Frauenkirch-Wildboden an diesem letzten Tag durch den Kopf? Er hat wohl kaum geahnt, dass in der fernen Zukunft ein Kunstmuseum in seiner neuen Heimatstadt Davos nach ihm benannt würde.
Wahrscheinlich blitzten in ihm die Erlebnisse aus dem Ersten Weltkrieg auf, die ihn zum Patienten in zahlreichen Kliniken und Pensionen in Deutschland und der Schweiz gemacht hatten. Vielleicht erinnerte er sich daran, wie er zum ersten Mal oben in Davos angekommen war und dabei per Bahn den Weg von Hans Castorp wiederholte, eines Helden aus Thomas Manns Roman «Der Zauberberg».
«Er sah hinaus: … Wasser rauschten in der Tiefe zur Rechten; links strebten dunkle Fichten zwischen Felsblöcken gegen einen steingrauen Himmel empor. Stockfinstere Tunnel kamen, und wenn es wieder Tag wurde, taten weitläufige Abgründe mit Ortschaften in der Tiefe sich auf… Es gab Aufenthalte an armseligen Bahnhofshäuschen, Kopfstationen, die der Zug in entgegengesetzter Richtung verliess, was verwirrend wirkte…»
Heute ist die Region um Davos aus wirtschaftlicher Sicht eine recht gut entwickelte Region. Trotzdem hat sich die von Thomas Mann einfühlsam geschilderte Landschaft in den letzten hundert Jahren kaum verändert, nur die «armseligen Bahnhofshäuschen» gibt es nicht mehr, und es führt jetzt eine gut ausgebaute Kantonsstrasse nach Davos. Heutzutage ist es nicht nur ein Skiort oder ein globaler Kurort, sondern auch die Hauptstadt des Weltwirtschafts-Forums WEF.
Ein Sehnsuchtsort und politisches Zentrum
Zu Ernst Kirchners Zeiten, zwischen den Weltkriegen, ging das Leben in Davos in der Atmosphäre einer Belle-Époque-Ära in einem gemässigten Tempo weiter. Die Patientinnen und Patienten diskutierten über abstrakte Begriffe, flirteten und hielten Séancen, also spiritistische Sitzungen, ab.
Dennoch vermochte Davos damals eine jede Künstlerpersönlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes hellhörig werden lassen und das zu vernehmen, was «in weiter Ferne», und dennoch «so nah» passierte.
Nicht umsonst hörte der Protagonist im «Zauberberg» gerade jene Donnerschläge, die den Beginn des Ersten Weltkriegs markierten – einer Katastrophe, die Europa zerstörte und das Ende jener Zivilisation einleitete, die gerade dabei gewesen war, einen gewaltigen Sprung in die Moderne zu vollziehen.
Davos blieb aber Davos, ein Ort, an dem nicht nur die im «Zauberberg» treffend geschilderte Tradition «des Diskutierens über abstrakte Begriffe» zu Hause war, sondern sich auch die dafür notwendige Infrastruktur wie Hotels, Pensionen und Kurzentren rasant entwickelte.
Die neutrale Schweiz war schon immer ein idealer Ort für komfortable und sichere Aufenthalte, nicht nur für Touristinnen und Patienten, sondern auch für Politiker, Denkerinnen und Philosophen.
Davoser Disputation
Im März 1929 fand hier die berühmte Davoser Disputation zwischen den grossen Philosophen Ernst Cassirer und Martin Heidegger statt. Die Bandbreite der diskutierten Themen war gross: Sein, Mensch, Wahrheit, Freiheit, Angst, Endlichkeit, Unendlichkeit.
Das Hauptthema jedoch war die Bedeutung Immanuel Kants für die moderne Philosophie. In seinem Buch «Die Zeit der Zauberer» beschreibt Wolfram Ellenberger sehr detailliert und farbenfroh den Aufenthalt der Genies des philosophischen Denkens in Davos.
Die Debatte war eine der bedeutendsten philosophischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts und erinnerte an den Disput in den Höhen von Davos zwischen dem Humanisten Settembrini und dem Antihumanisten Naphta aus dem «Zauberberg».
Während man sich einig war, dass die Entfaltung der Freiheit in jedem Menschen einer individuellen Selbstbefreiung gleichkäme, haben die Philosophen diesen Entfaltungsprozess auf eine unterschiedliche Art und Weise verstanden.
In seinem Aufsatz zur Davoser Disputation unterstreicht der deutsche Philosoph und Soziologe Jürgen Habermas, im Rahmen dieser Debatte sei es um nicht weniger als um das Ende einer ganzen Ära gegangen, jenem Ende also, das sich dem Autor des «Zauberbergs» mit einem ohrenbetäubenden Knall bereits früher offenbarte.
Der Erste Weltkrieg wurde zu einem Selbstmord Europas. Es ging um die Erfindung eines wahren Übermenschen, der ernsthaft daran glaubte, mittels rationaler Technik die Welt auf eine vernünftige Art und Weise verändern zu können.
Heideggers Empirismus hat aber letztlich gesiegt. Der Mensch hat damit begonnen, nicht in erster Linie die Welt zu verändern, sondern fleissig an der Entwicklung der Tötungstechnologien zu arbeiten. Es war das Ende des Projekts der europäischen Moderne, dieses gnadenlose Fazit wurde von der Aussenwelt unbemerkt in Davos gezogen.
Der Donner grollt im Roman, im Leben und im Tod
In Deutschland wurde derweil Ernst Ludwig Kirchner zur Persona non grata erklärt. 1936 entfernte man seine Werke, die als «entartete Kunst» gebrandmarkt wurden, aus den Museen. Die Schikanen verschärften seine persönliche Krise.
Im Februar 1936 ertönten die Schüsse, die Thomas Mann in seinem Buch nur vage wahrgenommen hatte, plötzlich sehr laut und nah. In Davos erschoss nämlich David Frankfurter, ein jugoslawischer Student, Wilhelm Gustloff, den Landesgruppenleiter der NSDAP-Auslandorganisation (AO) in der Schweiz.
Der Mörder stellte sich sofort der Polizei und behauptete, die Schüsse seien für Adolf Hitler persönlich bestimmt gewesen. Deutschland machte aus dem Mord an Gustloff einen diplomatischen Konflikt höchsten Ranges.
Von Davos aus wurde der Sarg mit einem Sonderzug über Zürich nach Schwerin, Gustloffs Heimat im Norden Deutschlands, überführt. Überall entlang der Strecke, an allen grösseren Bahnhöfen, wurde die Ankunft des Zugs mit Gustloffs Leichnam in eine prunkvolle Abschiedszeremonie verwandelt. In Schwerin fand seine Beerdigung statt, stilisiert als Staatsakt.
Schweizer Regierung im Dilemma
Im Dezember 1936 begann in Chur der Mord-Prozess. Eine grosse Anzahl von Journalisten, vor allem aus Deutschland, war bei dem Prozess akkreditiert. David Frankfurter wurde zu 18 Jahren Gefängnis verurteilt.
Der Fall Gustloff spaltete die Schweiz. Während die Presse alle Angriffe aus Deutschland entschieden zurückwies, zog es der Bundesrat, die Schweizer Regierung, vor, eine eher zurückhaltende Haltung einzunehmen, offensichtlich aus Sorge um die Beziehungen mit Hitler-Deutschland.
Dennoch war der Bundesrat gezwungen, überzeugende Massnahmen zu ergreifen, um zu beweisen, dass auch die Schweizer Regierung alles tut, um dem nationalsozialistischen Einfluss Einhalt zu gebieten.
Zwei Wochen nach dem Attentat in Davos verbot die Regierung amtlich jegliche Aktivitäten der Führungsgremien der NSDAP in der Schweiz und verabschiedete zudem ein Bundesgesetz betreffend Angriffe auf die Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft.
Das Gesetz sah unter anderem schwere Strafen für diejenigen vor, die versuchen würden, die Eidgenossenschaft einer fremden Macht zu unterwerfen oder einen oder mehrere Kantone zu demselben Zweck abzuspalten.
Das Auswärtige Amt in Berlin reagierte prompt und gewährte den Landesgruppenleitern der NSDAP-Auslandorganisation eine diplomatische Immunität. 1940 hob der Bundesrat stillschweigend das oben erwähnte Verbot auf.
Die fernen Donnerschläge aus dem Roman «Zauberberg» haben Ernst Kirchner eingeholt. Im Juni 1938 nahm er sich das Leben. Sein Grab befindet sich heute auf dem Waldfriedhof Wildboden zwischen Davos Platz und Davos Frauenkirch.
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